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Erfundene Wirklichkeiten Was wir von der Literatur über Fake News lernen können

In der Literatur wurden schon immer Wirklichkeiten erfunden. Was können wir von Romanen und Gedichten über Fakes lernen?

1963 wurde publik, dass ein Forscher «Die Wahrheit über Hänsel und Gretel» gefunden hatte. Geleitet von Indizien in dem Grimmschen Märchen hatte er gesucht und gefunden: den Wald, die Fundamente des Hexenhauses, Lebkuchenreste, alte Illustrationen, amtliche Dokumente.

Es hatte sich ihm auch der Verdacht bestätigt, dass Hänsel und Gretel Erwachsene gewesen waren, die aus niedrigen, materiellen Motiven eine Frau der Hexerei bezichtigt und getötet hatten. Die Gebrüder Grimm aber haben das Verbrechen aus pädagogischen Gründen verharmlost.

Der Forschungsbericht wurde vom seriösen Feuilleton als Sensation gewertet und diskutiert – bis der deutsche Autor Hans Traxler im Fernsehen bekannte, dass er den Forscher und all seine Forschungsresultate frei erfunden hatte. Ein perfekter Fake.

Faken – wie geht das?

Welche Mittel hat Traxler eingesetzt, um sogar dem Fachpublikum die absurde Idee schmackhaft zu machen, man könne ein Märchen als historische Dokumentation lesen? Diese Frage wiederum interessiert heute den Literatur- und Kunstwissenschaftler Thomas Strässle. In seinem Essay «Fake und Fiktion» untersucht er anhand von Traxler und von anderen literarischen Beispielen, wie man Erfindungen glaubwürdig machen kann.

Traxler setzte auf die Überzeugungskraft des wissenschaftlichen Gebarens. Er nennt seine Erfindung «Dokumentation», gibt Belege, Bilder, Dokumente, Statistiken etc. Und der Literaturwissenschaftler Strässle verallgemeinert:

Die Fake-Botschaft muss den Empfänger packen wie eine ansteckende Krankheit. Sie muss an Bekanntes anknüpfen. Fakes sind keineswegs Belehrungen Unwissender, wie man oft annimmt. Im Gegenteil: Der Rezipient muss, damit sein Interesse geweckt wird, schon Ahnung von der Sache haben. Ihm wird aber gesagt: Dein Wissen ist naiv. Ich, der kritische Autor, enthülle dir, dass an der Sache etwas faul ist. Ich entdecke verborgene Interessen und geheime Mächte, die du nicht bemerkt hast.

Gemeinsamkeit mit der Literatur

Gleichzeitig muss der gute Faker an einen gesellschaftlichen oder Gruppen-Konsens anknüpfen. Nie darf der Eindruck der Belehrung oder der Komplexität entstehen. Im Gegenteil: Der gute Faker ist immer wieder selbst erstaunt über die Resultate seiner Enthüllungen und sagt dem Rezipienten: Dein gesunder Menschenverstand genügt, um zu erkennen, wie plausibel das alles ist, was ich erkannt habe.

Ein guter Faker vermischt die verschiedensten Quellen, die er nicht genau bezeichnet. Er arbeitet mit schnellen Schnitten. Der Konsument darf nicht ins Nachdenken geraten. Und ganz wesentlich ist: Ein Fake, auch das in gewissem Sinne eine Gemeinsamkeit mit Literatur, ist immer Absicht. Ein Fake ist kein Versehen, keine Notlüge oder Ungenauigkeit. Fake ist eine bewusste und gewollte Täuschung.

Lernen, Fakes zu lesen

Thomas Strässle ist unzufrieden, wenn immer nur diskutiert wird, ob ein Fake wahr oder falsch ist. Faktenchecking, sagt er, sei zwar nötig, aber ungenügende Symptombekämpfung. Denn Fakes sind in der Welt und entfalten ihre Wirkung. Was tun? Dem Publikum beibringen, fakes zu «lesen», ihre Erzählmuster zu erkennen, sie zu durchschauen.

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