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Éric Vuillards neuer Roman Als der Pöbel die Freiheit erkämpfte

230 Jahre nach der Französischen Revolution setzt der französische Autor Éric Vuillard den namenlosen Massen ein literarisches Denkmal.

14. Juli 1789, Bastille, Paris: «Der Angriff begann überall und nirgends. Die Schreie spielten ihre Rolle. Die Flüche spielten ihre Rolle. Es war ein grosser Krieg der Gesten und Wörter. Die drängende, glühende Menge warf mit Steinen. Ein furchtbares Getöse, Verwünschungen. Die Menge rief mit tiefer Stimme: ‹Mörder! Mörder!›»

Der Sturm der Festung Bastille ist der Auftakt zur Französischen Revolution. Sie setzt der absolutistischen Herrschaft des Königs Ludwig XVI. ein Ende und will die Freiheitsideale der Aufklärung in die Tat umzusetzen.

Der französische Autor Éric Vuillard widmet dem welthistorischen Sturmangriff seinen Roman «14. Juli». Er ist vor Kurzem auf Deutsch erschienen.

Der Blick von unten

Im Zentrum stehen für einmal nicht die damaligen Entscheidungsträger. So ist dem Autor etwa der verschwenderische König wenig mehr als ein paar Zeilen wert. Er nimmt in historischen Werken zum Thema üblicherweise einen prominenten Platz ein.

Éric Vuillard fokussiert ganz auf die Akteure des gewalttätigen Sturms – auf die Unzufriedenen, die benachteiligten Gesellschaftsschichten, die revolutionäre Masse.

Wie schon in anderen Werken geht der Autor erneut ganz nah ran an diejenigen, die dabei waren: an die Verarmten und Frustrierten, an den Handwerker ohne Einkommen, die in Lumpen gehüllte Marktfrau, den mittellosen Wandergesellen.

Der andere Blick

Durch die Wahl dieser Perspektive verändert sich unser Blick auf das revolutionäre Geschehen: Es sind nicht die Mächtigen, die Geschichte schreiben, sondern die vielen in der Menge. Von ihnen ist heute im besten Fall noch der Name bekannt.

«Die Berichte, die wir vom 14. Juli haben, sind spröde oder lückenhaft. Die Dinge müssen von der namenlosen Menge aus betrachtet werden. Und man muss erzählen, was nicht geschrieben steht.»

Tatsächlich ist die historische Überlieferung voller Lücken. Und da setzt Éric Vuillards Roman ein: «Es gilt aufzuschreiben, was man nie wissen wird.»

Auf der Grundlage der bruchstückhaften historischen Fakten konstruiert der Autor seine Erzählung des Bastille-Sturms, indem er die Lücken der Überlieferung behutsam mit Fiktion füllt.

Mehr und mehr entsteht bei der Lektüre eine Vorstellung des Geschehens, wie es gewesen sein könnte, wie sich die Beteiligten verhielten. Das Bild ist farbenprächtig und einprägsam – nie aber kitschig.

Kino zwischen Buchdeckeln

Zupass kommt dem Autor, dass er nicht nur ein eloquenter Sprachkünstler ist, sondern – als Filmemacher im Zweitberuf – stark in Bildern denkt. So geht die Kamera immer wieder unerbittlich nah ran ans Geschehen.

Sie zeigt in schnell geschnittenen Szenenwechseln wut- und schmerzverzerrte Gesichter, schweissüberströmte Fratzen, klaffende Wunden, aus denen Blut strömt. Man riecht den Gestank, man hört das Gebrüll der Massen, das Knallen der königlichen Kanonen.

Dank dieser bisweilen überdeutlichen Zeichnung gelingt es dem Roman, den von der Geschichtsschreibung oft vernachlässigten Menschenmassen Leben einzuhauchen. Und es wird deutlich, wer am 14. Juli 1789 im Grunde genommen jenen entscheidenden Schritt in die Freiheit unternahm, an die wir uns heute längst gewöhnt haben: jene Heerscharen von vergessenen armen Teufeln.

Buchhinweis

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Éric Vuillard, 14. Juli. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes und Seitz, 2019.

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