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Literatur Erste Male von Lukas Linder

Der junge Dramatiker Lukas Linder führt seine Figuren von der Bühne ins Hörspiel: Kurz bevor «Das traurige Schicksal des Karl Klotz» erstmals im Radio gesendet wird, erzählt Linder von der Geburt des «Karl Klotz», von Initiation in Stücken und Schaumbädern aus purer Verzweiflung.

Lukas Linders Theaterfiguren sind alles andere als hübsch, leichtfüssig und grazil. Sie sind nicht immer schön anzusehen: Karl Klotz ist fett («Das traurige Schicksal des Karl Klotz»), Albert Wegelin ist abgemagert und ausgehungert («Der Mann in der Badewanne oder Wie man ein Held wird»), Herr Bär ist ein unbeholfener Durchschnittsbürger («Der Bären wilde Wohnung»).

Oft wirken Linders Figuren grotesk. Und immer scheinen sie mehr durch ihre Umgebung bewegt als aus eigenem Antrieb.

Genau diesen «Kampf gegen eine angeborene, paradiesische Trägheit» sieht Lukas Linder als Triebmotor des Lebens. Wenn man erkennt, dass die Welt einem leider mehr abverlangt als nur «Wünschen» und «Wollen». Und eigene Regeln aufstellt.

Ein missglückter Zaubertrick in der Schulzeit, die dabei  entstandene Scham bei Zauberer wie Zuschauer, hat Lukas Linder gezeigt, dass der Mensch sich bewegen muss, wenn er leben will. Ob er nun will oder nicht. Eine persönliche Anekdote und wie sie sein Weltbild und dramatisches Schaffen geprägt hat – Lukas Linder erzählt:

Biografisches Exempel

Am Schulexamen in der sechsten Klasse habe ich ihn das erste und im Grunde einzige Mal so richtig wahrgenommen. Zur Überraschung aller wollte er einen Zaubertrick vorführen. Irgendetwas mit Schnüren, die auf wundersame Weise entknotet werden sollten. Wie er da stand, zitternd und mit grasbefleckter Jeans, war er weit weg von jener magischen Atmosphäre, die er versprühen wollte. Damals war David Copperfield gerade überall im Fernsehen. Aber der war viel grösser, hatte langes Haar, keine grasbefleckte Jeans, überhaupt keine Jeans, und war ausserdem mit Claudia Schiffer zusammen.

«Herzlich Willkommen, Ladies and Gentlemen», sagte er. Im Zuschauerraum stand jemand auf und schlich leise zur Tür. «Abrakadabra». Flüsterte er. Nunmehr ganz leise. Und wie zu sich selbst. Bevor er sich in der Manier eines Metzgers auf die Schnüre stürzte. Es war offensichtlich, dass er nicht geübt hatte. Er glaubte wohl, Zaubertricks gingen von alleine. Die Lehrerin musste helfen gehen. Sie hatte eine grosse Schere. Damit schnitt sie die Knoten durch. «So geht’s natürlich auch», sagte jemand. Hätte der Zauberlehrling nicht hemmungslos geheult, es wäre wohl auch gebuht worden. Für meine kognitive Entwicklung war das sehr lehrreich. Damals habe ich gelernt, was das Wort «Fremdschämen» bedeutet.

Schulmeisterliche Erläuterungen

Zur Person Lukas Linder

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Lukas Linder, geboren 1984 in Uhwiesen (ZH), studierte Germanistik und Philosophie und wirkte Theaterprojekten mit, bevor er 2009 mit seinem Stück «Die Trägheit» den Preis des Autorenlabors in Düsseldorf gewann. Seine Stücke (u.a. «Der Mann in der Badewanne», «Ich war nie da») wurden in Deutschland, Österreich und in der Schweiz aufgeführt.

Was das eigene Herauskommen anbelangt, sind solche vom Gefühl der Scham durchdrungene Erfahrungen von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Man lernt, dass dem eigenen Wünschen und Wollen scheinbar natürliche Grenzen gesetzt sind. Grenzen, die wie Verbotsschilder der eigenen Trägheit entgegenstehen. Ich glaube, der Mensch ist seiner Natur nach ein unsagbar träges Wesen. Und allein die Erfahrung solcher Grenzen spickt ihn aus seiner Embryoruhe heraus, lässt ihn wild im Zeug herumrennen, Blockflöte spielen, irgendeinen Kredit aufnehmen, heiraten, oder ein Theaterstück entwerfen.

Beim Schreiben interessiere ich mich immer für Figuren, die von dieser neurotischen Unruhe getrieben werden. Also vom Gefühl der Unverträglichkeit des eigenen Wünschens mit den Grenzen, die aus der Gesellschaft wachsen. Soll man darüber hinausgehen oder soll man sich unterwerfen? So oder so lässt sich der Zustand jener paradiesischen Urträgheit nicht mehr wiederherstellen. Da kann man Schaumbäder nehmen oder «floaten» oder auf einen Gong hauen, so viel man will.

Und vielleicht ist das auch gar nicht erstrebenswert. Kindheit und Jugend sind für die Thematisierung solcher Fragen ein guter Raum. Denn sie beschreiben eine Zeit, da man zum ersten Mal mit der Frage, wer man ist und wie man in diesem Falle leben soll, konfrontiert wird. Während sie später schon Gewohnheit geworden sind. Egal wie frisch der Geist sich gibt. Ich glaube, es ist kein Zufall, wenn die beiden besten Werke der deutschen Literatur «Wilhelm Meister» und «Der Grüne Heinrich» genau diese Jahre zum Inhalt ihrer Erzählung haben.

So werden in «Das traurige Schicksal des Karl Klotz» im Grunde lauter Initiationsszenen beschrieben: Initiation in die Liebe, Initiation in den eigenen Körper und seine Wünsche, Initiation in die Sexualität und das Begehren, Initiation in die Verschlungenheit der eigenen Psyche – und deren Grenzen: Initiation in gesellschaftliche Restriktionsmechanismen. Der Tonfall der Erfahrung dieser Wunder ist naiv bis hysterisch. Eben darum, weil man sie zum ersten Mal erlebt und keine Möglichkeit hat, sich mit dem Massstab der Gewohnheit zu beruhigen.

Beim Schreiben stelle ich mir die Figuren sehr nah, sehr gross und sehr gewaltig vor. Ich habe mich schon oft gefragt, wie andere, die schreiben, ihre Figuren sehen. Bei mir sitzen sie fast auf der Nasespitze. Und sie reden sehr laut. Es geht zu wie an der Fasnacht. Und das Reden plustert sie noch weiter auf. Weil es in dem Stück so sehr um Nähe, um allzugrosse Nähe geht, halte ich eine Umsetzung in der so intimen Hörspielform für sehr passend. Auch darum, weil Hörspiele für mich noch von Kindsbeinen her den Charakter einer Initiation ins Leben haben. Ein erstes Mal, das man immer wieder wiederholen will. Und noch einmal! Und die Kassette dreht und wendet. Und die Eltern damit glattweg in den Wahnsinn treibt.

«Je älter man wird, desto seltener werden Dinge, die man zum ersten Mal erlebt.» Schreibt der kroatische Schriftsteller Miljenko Jergovic. Ich halte es für erstrebenswert, solche erste Male in Texten zu beschreiben, zu wiederholen und zu erfinden. Im Bewusstsein, dass man im Leben eben doch nur ein Anfänger ist. Und dies auch bis auf weiteres bleibt.

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