Ein blaues Tuch weht über einem Waadtländer Weinberg. Weltkugeln warten im Schaufenster auf neue Besitzer: Auf den Fotografien, die in der Ausstellung «Blinder Fleck» im Zürcher Museum Strauhof zu sehen sind, passiert nicht viel.
Die insgesamt 30 Fotografien stammen aus einem gleichnamigen Buch mit 150 Bildern, deren deutsche Übersetzung parallel zur Ausstellung erschienen ist. Jede Fotografie ist mit einem Kurztext versehen.
Text und Bild stammen von einem, der bisher als Wortkünstler und Denker aufgefallen ist: der amerikanische Autor und Journalist Teju Cole. «Blinder Fleck» ist sein viertes Buch und sein erstes Fotobuch.
Mehr als ein Reisetagebuch
Die Fotografien hat Teju Cole auf Reisen gesammelt, die er als Schriftsteller unternahm: etwa in den USA, in Nigeria oder im Libanon. Ein grosser Teil ist in der Schweiz entstanden, wo er 2014 als Artist in Residence weilte und das Land bereiste.
Sein Buch ist also eine Art Reisetagebuch. Mit seiner kleinen Kamera fängt Teju Cole aber nicht das Lokalkolorit von Orten ein. Sondern er richtet sie auf unscheinbare Szenen oder banale Dinge.
Verorten lässt sich ein Bild meist nur durch die Überschrift und die Zeilen, die es begleiten. So weit, so konventionell.
Einladung aufs Gedankengerüst
Aussergewöhnlich ist, wie leichtfüssig und sprachlich elegant Teju Cole, ausgehend von einer flüchtigen Wahrnehmung, ein Gedankengerüst um das andere erklimmt. Ein Gedanke, eine Geschichte oder ein Gedicht, einige Sätze in verdichteter Sprache, spinnen das auf der Fotografie Gezeigte weiter.
Statt bloss zu beschreiben, was er sieht, verbindet er in «Blinder Fleck» Gedachtes, Gehörtes und Gelesenes mit der Atmosphäre eines Ortes, die er in wenigen, klaren Worten einfängt. Selten wurde eine Petflaschen-Sammelstelle poetischer beschrieben, als diejeinige, die er in Vals fotografiert hat.
Politisch gefärbte Bilder
Das passt zu Teju Cole: Schon in seinen bisherigen Büchern und seiner Kolumne «On Photography» in der New York Times hat er gezeigt, wie das genaue Beobachten Zugang zu Denkräumen verschafft.
Und Cole, der als Autor immer wieder die politische Gegenwart in den USA kommentiert, blickt auch als Fotograf kritisch in die Welt. In der Schweiz – seinem Sehnsuchtsort, wie er schreibt – sucht er nach Brüchen. In Zürich spricht er den Waffenhandel an, in Vals den Umgang mit Verdingkindern.
Auf Muottas Muragl im Oberengadin zerstört er die Idylle gleich doppelt. Im Bild: Indem er den Berg durch eine Plexiglasscheibe fotografiert, die das Panorama zerschneidet und spiegelt. Und im Text: «Hier hat man früher Frauen verbrannt», setzt er an.
Lücken in der Welt
Das Unaufgeregte ist in «Blinder Fleck» Programm. Biologisch betrachtet ist ein blinder Fleck nichts anderes als eine Lücke in der Welt, die wir beim Sehen füllen müssen.
Als Titel verweist «Blinder Fleck» einerseits auf das, was alle Fotos verbindet: Sie zeigen etwas, was wir wohl an Ort und Stelle übersehen hätten, weil es nebensächlich erscheint. Durch den Betrachter und seine Worte erhält es Bedeutung.
Andererseits bezieht sich der Titel auf einen kurzzeitigen Sehverlust Teju Coles, die er in einem gleichnamigen Essay in «Vertraute Dinge, fremde Dinge» beschreibt.
Das Erlebnis führt ihn zur Frage, was Sehen eigentlich bedeutet. Und wie es mit einer anderen Form des Wahrnehmens zusammenhängt: mit dem Schreiben und Beschreiben.
«Welche Welt sehen wir?»
Wenn es im Bildband einen roten Faden gibt, dann diese Frage. «Welche Welt? Sehen wir? Wer wir?», fragt sich Cole an einer Stelle. Das Bild daneben zeigt einen Lieferwagen, auf den ein Büroraum aufgedruckt ist.
Solche Bilder im Bild – auf Werbetafeln, Wandmalereien und Tapeten – hält er auffällig oft fest. Wo Gegenstände direkt abgebildet sind, stören oft Absperrungen, Netze oder Schleier das klare Sehen und Erkennen.
Traum und Geisterwerk
Passend dazu geht es in den Texten oft um das, was sich mit Worten und Bildern nicht klar festhalten lässt: um Träume und Sehnsüchte, um die Stimmung eines Augenblicks, die noch unscharfen Gedanken, die in Bewegung geraten.
Oder um Geister und Glauben – eine Welt, die Teju Cole aus seiner Kindheit kennt. Auch im wehende Netz in Rivaz erkennt er Geisterwerk.
Das Unerklärliche festhalten
Wer wie Cole nicht (mehr) gläubig ist, der muss mit dem Unerklärlichen leben. Fotografieren und Schreiben schliessen für ihn die Lücke: Indem sie helfen, mehr zu erfassen als Sinne und Verstand.
«Fotografieren ist kontrollierte Offenbarung», schreibt Teju Cole. Daneben ein Mann im Hawaii-Palmen-Hemd. Auch das ist typisch Cole: Die Ironie, die seine gedankliche Überschwänglichkeit abfedert.