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Fotos von Teju Cole Ein Schriftsteller lehrt uns das Sehen

Ein Wortkünstler gibt uns eine Anleitung zum Sehen: Der nigerianisch-amerikanische Autor Teju Cole hat einen Band mit Fotografien herausgegeben. Die sehenswerten Bilder werden derzeit in Zürich ausgestellt.

Ein blaues Tuch weht über einem Waadtländer Weinberg. Weltkugeln warten im Schaufenster auf neue Besitzer: Auf den Fotografien, die in der Ausstellung «Blinder Fleck» im Zürcher Museum Strauhof zu sehen sind, passiert nicht viel.

Die insgesamt 30 Fotografien stammen aus einem gleichnamigen Buch mit 150 Bildern, deren deutsche Übersetzung parallel zur Ausstellung erschienen ist. Jede Fotografie ist mit einem Kurztext versehen.

Text und Bild stammen von einem, der bisher als Wortkünstler und Denker aufgefallen ist: der amerikanische Autor und Journalist Teju Cole. «Blinder Fleck» ist sein viertes Buch und sein erstes Fotobuch.

Teju Cole

Teju Cole

Autor und Fotograf

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Teju Cole wurde 1975 geboren, wuchs in Nigeria auf und kam als Jugendlicher in die USA. Heute lebt er in Brooklyn. Die Romane «Jeder Tag gehört dem Dieb» (2007) und «Open City» (2011) machten ihn zu einer wichtigen Stimme der Gegenwartsliteratur. Seine Essays zur politischen Gegenwart in den USA erscheinen in verschiedenen Zeitungen, für die New York Times schreibt er als Fotografie-Kritiker die Kolumne «On Photography». Eine Sammlung seiner Essays ist als «Vertraute Dinge, fremde Dinge» (2016) erschienen.

Webseite von Teju Cole

Mehr als ein Reisetagebuch

Die Fotografien hat Teju Cole auf Reisen gesammelt, die er als Schriftsteller unternahm: etwa in den USA, in Nigeria oder im Libanon. Ein grosser Teil ist in der Schweiz entstanden, wo er 2014 als Artist in Residence weilte und das Land bereiste.

Sein Buch ist also eine Art Reisetagebuch. Mit seiner kleinen Kamera fängt Teju Cole aber nicht das Lokalkolorit von Orten ein. Sondern er richtet sie auf unscheinbare Szenen oder banale Dinge.

Verorten lässt sich ein Bild meist nur durch die Überschrift und die Zeilen, die es begleiten. So weit, so konventionell.

Ein Schaufenster mit einem Regal, in dem alte Weltkugeln stehen.
Legende: Zürich 2014. Ein Hauch von Weltstadt? Diese Weltkugeln hat Teju Cole in Zürich festgehalten. Teju Cole

Einladung aufs Gedankengerüst

Aussergewöhnlich ist, wie leichtfüssig und sprachlich elegant Teju Cole, ausgehend von einer flüchtigen Wahrnehmung, ein Gedankengerüst um das andere erklimmt. Ein Gedanke, eine Geschichte oder ein Gedicht, einige Sätze in verdichteter Sprache, spinnen das auf der Fotografie Gezeigte weiter.

Lesung und Ausstellung: Teju Cole in Zürich

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  • Teju Cole ist morgen Samstag, 7. Juli, am Openair Literatur Festival in Zürich zu Gast. Mit der deutschen Journalistin Carolin Emcke spricht er im Alten Botanischen Garten über Fragen der Gegenwart. Mehr Infos hier.
  • Rund 30 der Bilder und Texte von Teju Cole werden noch bis 29. Juli in einer Ausstellung im Strauhof Zürich gezeigt. Am Sonntag, 8. Juli um 14 Uhr führt Cole durch die Ausstellung. Mehr Infos hier.

Statt bloss zu beschreiben, was er sieht, verbindet er in «Blinder Fleck» Gedachtes, Gehörtes und Gelesenes mit der Atmosphäre eines Ortes, die er in wenigen, klaren Worten einfängt. Selten wurde eine Petflaschen-Sammelstelle poetischer beschrieben, als diejeinige, die er in Vals fotografiert hat.

Eion Mann blickt in einen Spiegel, sein Gesicht wird doppelt reflektiert.
Legende: Meister der verschachtelten Ideen: Teju Cole. Martin Lengemann

Politisch gefärbte Bilder

Das passt zu Teju Cole: Schon in seinen bisherigen Büchern und seiner Kolumne «On Photography» in der New York Times hat er gezeigt, wie das genaue Beobachten Zugang zu Denkräumen verschafft.

Buchhinweis

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Teju Cole: «Blinder Fleck». Mit einem Vorwort von Siri Hustvedt. Hanser, 2018.

Und Cole, der als Autor immer wieder die politische Gegenwart in den USA kommentiert, blickt auch als Fotograf kritisch in die Welt. In der Schweiz – seinem Sehnsuchtsort, wie er schreibt – sucht er nach Brüchen. In Zürich spricht er den Waffenhandel an, in Vals den Umgang mit Verdingkindern.

Eine Berglandschaft, davor ein Absperrglas, das mit Metallstreben in vier Teile geteilt wird.
Legende: Muottas Muragl, 2015. Ungebrochene Idylle sieht anders aus. Teju Cole

Auf Muottas Muragl im Oberengadin zerstört er die Idylle gleich doppelt. Im Bild: Indem er den Berg durch eine Plexiglasscheibe fotografiert, die das Panorama zerschneidet und spiegelt. Und im Text: «Hier hat man früher Frauen verbrannt», setzt er an.

Lücken in der Welt

Das Unaufgeregte ist in «Blinder Fleck» Programm. Biologisch betrachtet ist ein blinder Fleck nichts anderes als eine Lücke in der Welt, die wir beim Sehen füllen müssen.

Was ist ein blinder Fleck?

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Für die Wissenschaft ist der blinde Fleck ein Rätsel: Dort wo unser Sehnerv im Auge endet, werden keine optischen Reize weiterleitet. Unser Sehfeld hat also eine Lücke – wir nehmen diese aber nicht wahr. Denn wir ergänzen und entwerfen an dieser Stelle, so eine Annahme, selbst die Welt.

Als Titel verweist «Blinder Fleck» einerseits auf das, was alle Fotos verbindet: Sie zeigen etwas, was wir wohl an Ort und Stelle übersehen hätten, weil es nebensächlich erscheint. Durch den Betrachter und seine Worte erhält es Bedeutung.

Ein weisses Schiffsrohr vor dem Hintergrund eines behangenen Himmels über einem See.
Legende: Brienzersee 2014. Hier schlummert Swissness: Das Schiffshorn erinnert Teju Cole an den Klang von Alphörnern. Teju Cole

Andererseits bezieht sich der Titel auf einen kurzzeitigen Sehverlust Teju Coles, die er in einem gleichnamigen Essay in «Vertraute Dinge, fremde Dinge» beschreibt.

Das Erlebnis führt ihn zur Frage, was Sehen eigentlich bedeutet. Und wie es mit einer anderen Form des Wahrnehmens zusammenhängt: mit dem Schreiben und Beschreiben.

«Welche Welt sehen wir?»

Wenn es im Bildband einen roten Faden gibt, dann diese Frage. «Welche Welt? Sehen wir? Wer wir?», fragt sich Cole an einer Stelle. Das Bild daneben zeigt einen Lieferwagen, auf den ein Büroraum aufgedruckt ist.

Ein Mann in orangem Pulli steht vor der Statue eines nackten Knaben und liest die Texttafel.
Legende: Chicago 2015. Menschen sieht man auf den Bildern kaum. Ein Gesicht ist nur ein einziges Mal zu sehen. Teju Cole

Solche Bilder im Bild – auf Werbetafeln, Wandmalereien und Tapeten – hält er auffällig oft fest. Wo Gegenstände direkt abgebildet sind, stören oft Absperrungen, Netze oder Schleier das klare Sehen und Erkennen.

Traum und Geisterwerk

Passend dazu geht es in den Texten oft um das, was sich mit Worten und Bildern nicht klar festhalten lässt: um Träume und Sehnsüchte, um die Stimmung eines Augenblicks, die noch unscharfen Gedanken, die in Bewegung geraten.

Ein Dutzend Schiffe und Jachten schwimmen aus Vogelperspektive auf dem Meer.
Legende: Capri 2015. «Herrliche Gewässer, die den Tod in sich tragen», zitiert Teju Cole die irische Autorin Edna O'Brien. Teju Cole

Oder um Geister und Glauben – eine Welt, die Teju Cole aus seiner Kindheit kennt. Auch im wehende Netz in Rivaz erkennt er Geisterwerk.

Das Unerklärliche festhalten

Wer wie Cole nicht (mehr) gläubig ist, der muss mit dem Unerklärlichen leben. Fotografieren und Schreiben schliessen für ihn die Lücke: Indem sie helfen, mehr zu erfassen als Sinne und Verstand.

«Fotografieren ist kontrollierte Offenbarung», schreibt Teju Cole. Daneben ein Mann im Hawaii-Palmen-Hemd. Auch das ist typisch Cole: Die Ironie, die seine gedankliche Überschwänglichkeit abfedert.

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