Christoph Höhtker ist ein überaus freundlicher Herr: gross gewachsen, Vegetarier und oft mit seinem geliebten Fahrrad unterwegs. Doch sein Humor ist etwas vom sarkastischsten, was man derzeit in der deutschsprachigen Literatur zu lesen bekommt.
In «Alles sehen» entwarf Höhtker eine totale Soziologie seiner Heimatstadt Bielefeld.
«Das Jahr der Frauen» schärft eine pornographische Sicht auf die Welt. Es ist eine Art «50 Shades of Grey» – nur sind bindende Verträge hier kein Thema. Christoph Höhtkers Roman ist eine Hommage an all die One-Night-Stands, die man längst hätte vergessen wollen. Eine beissende Satire auf die Expat-Gemeinde in Genf.
Geschichte eines Nymphomanen
In der Gesellschaft dieses Romans ist die Erotik der Klebestoff, der die Menschen gerade noch zusammenhält. Eine düstere Bilanz über den Zustand der internationalen Gemeinschaft zu schreiben, war aber nicht das primäre Ziel von Christoph Höhtker: «Ich wollte einfach eine leichte, flirthafte, flirrende Geschichte über Männer und Frauen schreiben.»
Der Don Juan in dieser Geschichte heisst Frank Stremmer: ein Nymphomane, der die Frauen und ihr soziologisches Habitat manisch aufsaugt.
Stremmer ist ein Zyniker mit Hang zu psychoaktiven Substanzen. In seinem Kopf gerät ständig irgendein Gedankengang ausser Kontrolle. Ganze Biografien spinnt sich Stremmer so spontan zusammen.
Weibliche Psychopharmaka
Die Geschichte – und Stremmers Jahr – beginnt beim Psychologen. Diesem schlägt er aus Jux eine Wette vor: Falls er es schaffe, jeden Monat eine neue Frau zu «verbrauchen», dann dürfe er sich am Ende des Jahres umbringen.
Was nun beginnt, ist ein psychedelischer Roadtrip von Frau zu Frau. Oder wie Stremmer es ausdrückt: eine «Abschiedstournee» vor dem verdienten Ruhestand. Seine Psychopharmaka sind die Frauen – und die machen ihn gleichzeitig krank und gesund.
Zerlegter Sexismus
Selbstverständlich ist Stremmers Fixierung auf Frauen sexistisch. Doch die Sexismus-Kritik werde gleich mitgeliefert, verteidigt sich Höhtker: «Der kritische Blick auf Sexismus ist in diesem Buch angelegt. Wer Lust hat, kann den Sexismus von Frank Stremmer in diesem Buch zerlegt sehen.»
In der Tat unterhält Stremmer mit seinen Frauen eine charmante Koexistenz, die sich jeglichen Machtansprüchen entzieht. Der Rückzug von allen gesellschaftlichen Normen und Verpflichtungen ist die eigentliche Phantasie, die Stremmer auf all seinen erotischen Ausschweifungen begleitet.
Keine Gemeinschaft, kein Sinn
Doch weshalb findet Frank Stremmer keinen besseren Ausstieg aus der Gesellschaft als den eigenen Tod? Höhtker lokalisiert das Problem in der Genfer Wohlstandszone:
«Stremmer könnte eigentlich zufrieden sein. Aber es fehlt ihm ein tieferer Sinn in dieser Existenz. Er ist nicht in der Lage, diesen Sinn irgendwo zu entdecken.»
Frank Stremmer arbeitet als PR-Mann in einer NGO, die sich für die globale Verständigung engagiert. Dabei kommunizieren gerade hier alle aneinander vorbei: «Das Sprachenwirrwarr ist das wirklich Typische für Genf, dieses ‹Einander-nur-halb-Verstehen›, das ‹Aneinander-vorbei-Reden›.»
Er denke, dass Genf für Frank Stremmer das ideale Habitat sei, sagt Höhtker: «Denn hier ist alles Gemeinschaftliche schon fast zerstört.»
Alternativlose Welt
Lange bevor Stremmer richtig aussteigt, weigert er sich, seinem Leben noch irgendeine tiefere Bedeutung zuzugestehen.
Das ist erstaunlich lustig – vorausgesetzt, man hat einen Sinn für fatalen Humor. Aber hinter all den Witzen lauert eine grosse Leere. Die gewinnt im Buch irgendwann die Oberhand.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Kompakt, 04.09.2017, 17:15 Uhr