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Friederike Mayröcker Ein Nachruf auf die Primadonna der deutschsprachigen Lyrik

Kaum jemand hat Lyrik so verspielt und existentiell dringlich betrieben wie Friederike Mayröcker. Nun ist die Österreicherin mit 96 Jahren in Wien gestorben.

Friederike Mayröcker war die langjährige Partnerin von Ernst Jandl. Sie arbeitete mit ihm zusammen, zum Beispiel am legendären Hörspiel «Fünf Mann Menschen». Als literarisches Team, aber auch mit ihrem jeweiligen Einzelwerk hätten Mayröcker und Jandl den Nobelpreis verdient. Sie bekamen ihn nicht, weil sie als Linke in Österreich jahrelang boykottiert wurden und weil ihr Werk zu experimentell war.

Beide bürsteten sie Sprache gegen den Strich und kombinierten scharfen Witz mit akribischer Analyse von Lebensumständen und Welt. Und das alles in experimentellem Gewand.

Insbesondere Friederike Mayröcker splittete Sprache regelrecht in Atome auf. Sie war die Primadonna der deutschsprachigen Lyrik. Mit einem hochbegabten Sprachgefühl verschnitt sie unbekümmert High mit Low und ging Schmerzpunkten nie aus dem Weg.

Lebenslange Lust am Experiment

Friederike Mayröcker feierte ihre ersten Erfolge in der österreichischen Avantgarde der 1950er-Jahre. Die Lust am Experiment begleitete sie lebenslang.

In einem Interview zum Büchner-Preis, der ihr 2001 verliehen wurde, sagte sie: «Ich begebe mich auf Abwege des Umbruchs und des Umschwungs. Das macht dann den Reiz eines Gedichtes aus, das anfänglich sehr verständlich erscheint. Wenn man es dann aber genauer anschaut, dann ist es in Wahrheit ganz anders.»

Friederike Mayröckers Arbeitszimmer in ihrer Wohnung in der Wiener Zentagasse 16 war legendär. Berge von Fotos, Stapel von Schallplatten (auch von den von ihr geliebten Rolling Stones), ganze Wäschekörbe mit Notizen: ein Termitenbau der Wörter. Aus ihm sind Dutzende Gedichtbände, Prosa, Text-Musikwerke, Hörspiele und Theaterstücke gewachsen.

Leben in Sprache

Friederike Mayröcker lebte nicht nur mit, sie lebte in Sprache. «Ich kann mich nur schreibend realisieren», gab sie mehr als einmal zu Protokoll. Umgekehrt sagte sie: «Ich kann kein Buch lesen, das eine Story hat.»

Friederike Mayröcker, 1924 in Wien geboren und als behütetes Einzelkind aufgewachsen, erzählt auf den ersten Blick tatsächlich keine Geschichten, auch wenn ihre Texte sehr viel Privates enthalten. Aber sie nehmen einen unweigerlich mit auf eine Reise.

Wörter als Lebewesen

Wörter waren Lebewesen für Friederike Mayröcker. Sie, die ihren Lebensunterhalt jahrzehntelang als Englischlehrerin verdiente, baute aus ihnen hochmusikalische Assoziationsgeflechte. Und so lud sie zu ausgedehnteren Reisen, als es eine Story je könnte.

Sie führte in weite Landschaften, die den Zustand der Welt ebenso enthielten wie den ganz privaten Schmerz, über den Tod des Vaters zum Beispiel im Gedicht «DREIZEILER AM 21.2.1978»:

«es spriessen immerfort die sanften
Toten aus Blume Baum Gebüsch und Wald / bald
meinen Schatten wirft ein Fliederbaum.»

Radio SRF4 News, Info 3, 04.06.2021, 12:00 Uhr

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