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Frühwerk eines Phantoms Thomas Pynchon und die Hipster-Party mit Todesfolgen

Lange war es still um den Schriftsteller Thomas Pynchon. Nun erscheint seine frühe Erzählung «Sterblichkeit und Erbarmen in Wien» erstmals auf Deutsch.

Zuletzt tauchte er in der Popkultur auf. Eine Comic-Figur bei den «Simpsons», die mit der Papiertüte über dem Kopf und angeblich authentischer Stimme ein paar Sätze ins Telefon spricht, oder sein letztes Buch «Bleeding Edge» mit einem fingierten Video-Clip bewirbt.

Thomas Pynchon ist Kult, die Tarnung ist sein Element. Über Jahrzehnte hat der US-amerikanische Schriftsteller daran gearbeitet, in seinen Büchern und in seiner Selbstdarstellung. Er gab keine Interviews und es existieren kaum Fotos. Stattdessen meistert er das Versteckspiel – und das mit seltener Hingabe.  

Illusion und Verschwörung

Rätselhaft sind auch seine grossen Romane. Sie sind verschlungen, irrwitzig und uferlos. Insgesamt sind es nur wenige, über die letzten Jahrzehnte verteilt, aber diese setzten Massstäbe.

Eines ist ihnen gemeinsam: Gewissheiten sind Illusion, die Welt ein abgründiger Ort, voller Wahnvorstellungen und Verschwörungstheorien.

Die Wirklichkeit gibt es nicht, stattdessen Wissen und Erfindung, Anspielung und Zitat. Seine Bücher sind ein grosses Spiel. Ein wilder Mix historischer Panoramen und diverser Literaturgenres von der Bibel bis zum Groschenroman.

Der Autor als junger Mann

85 ist Thomas Pynchon in diesem Jahr, soviel ist sicher. Es lohnt sich, einen Blick zurück auf den Autor als jungen Mann zu werfen – in die Zeit, aus der übrigens auch die einzigen Fotos des Phantom-Autors stammen.

«Sterblichkeit und Erbarmen in Wien» ist sein literarischer Anfang, der Titel ist ein Shakespeare-Zitat – und es gibt einen Plot, einen Rahmen, eine Szene: eine Party in Washington D.C.

Zen und Wittgenstein

Pynchon ist 22 und Student an der Cornell Universität, als er seine Erzählung über die Washingtoner Hipster-Party schreibt. Die Partygäste sind leicht exzentrisch, cool nach den Massstäben der Zeit. Der Gastgeber im Tweedmantel ist weg, bevor die Gäste erscheinen.

Cleanth Siegel, der wohl ein Freund Pynchons ist, spielt die Hauptfigur. Er durchstreift die Szene, in der kaum Auffallendes passiert. Es geht um Alkohol, Beziehungen und Party-Gerede. «Zen, San Francisco, Wittgenstein». Das sind alles Satzfetzen, die er im Vorbeigehen aufschnappt.

Buchhinweis

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Thomas Pynchon: «Sterblichkeit und Erbarmen in Wien». Jung und Jung, 2022.

Amoklauf im Appartement

Hinzu kommt ein Schweinefötus, der in Formaldehyd über der Eingangstür baumelt. Kunst und Waffen zieren die Wand, Munition liegt im Schreibtisch. Unter den Gästen fällt ein Indigener durch seine leise Zurückhaltung auf.

Er steht am Rand und sieht zu, was passiert. Von seiner Psychose, der «Windigo-Halluzination», weiss nur die Hauptfigur. Sie kennt den indigenen Mythos. Nur Siegel ahnt den Amoklauf im Appartement.

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Der Autor Thomas Pynchon ist in dieser frühen Erzählung nur zu erahnen. Die Halluzination und der Schweinefötus, das sind Pynchon-Motive, stilistisch sicher erzählt. Es fehlt jedoch der Rückraum, um mehr zu sein als schneller Effekt.

Das kann auch ein Vorteil sein, denn häufig fehlt der irrwitzige Deutungsanspruch seiner späteren Werke und ihre überbordende Stofffülle. Das ändert sich mit «V.», dem ersten Roman, nur wenige Jahre später. Aber das ist eine andere Geschichte.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 22.09.2022, 07:06 Uhr.

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