In seinem neuen Buch «Ameisen unterm Brennglas» zeichnet der Schweizer Schriftsteller Jens Steiner das Bild einer Gesellschaft, die überfordert ist. Für ihn ist das keine blosse Fiktion.
SRF : In Ihrem Roman schildern Sie eine Gesellschaft, die in einem zutiefst besorgniserregenden Zustand ist. Was macht Ihnen persönlich am meisten Sorgen?
Jens Steiner: Wie wir mit der permanenten Nachrichtenflut umgehen, wie wir sie untereinander verbreiten. Wir stecken tief im digitalen Zeitalter, aber wir haben den digitalen Raum nicht im Griff, so wenig wie wir uns in diesem Raum selbst im Griff haben.
Was läuft denn konkret falsch?
Unser Umgang mit Nachrichten ist durch die Digitalisierung verstärkt auf Reizen aufgebaut. Es werden Regionen unseres Gehirns angesprochen, die auf kleine Belohnungen ansprechen.
Ständig sind wir daran, unsere Leben und die der anderen anzuschauen und zu beurteilen. Das setzt uns unter Stress.
Ich bezweifle, dass wir irgendwann die Fähigkeit haben, mit all diesen Reizen souveräner umzugehen – in den sozialen Medien und überhaupt im digitalen Raum.
Was ist der Preis, den wir bezahlen?
Wir sind kaum mehr bei uns selbst und auch nicht mehr in der Lage, uns ein Bild von einer Sache zu machen. Ich glaube, dass wir zu viele fremdgesteuerte Bilder in uns tragen.
Das hängt unter anderem mit der alltäglichen Bilderflut zusammen: Man konsumiert über verschiedenste Kanäle zahllose Bilder und vergrössert die Masse noch, indem man Fotos von sich selbst und seinem Leben beisteuert.
Ständig sind wir daran, unsere Leben und die der anderen anzuschauen und zu beurteilen. Das setzt uns unter Stress – auch wenn wir so tun, als ob uns das Freude machen würde.
In Ihrem Roman arbeiten Sie diese Reizüberflutung mit einem brachialen Szenario heraus: Eine beispiellose Serie von Verbrechen verunsichert die Schweizer Öffentlichkeit. Die Figuren verlieren den Boden unter den Füssen, auch wenn sie von den Ereignissen vorerst gar nicht direkt betroffen sind. Was fehlt den Menschen?
Die Gelassenheit und die Distanz. Sie sind nicht geerdet und deshalb leicht zu verunsichern. Sie sind unglaublich schnell vermeintlich mitten in den Ereignissen drin, weil sie ihnen via Medien und Social Media unmittelbar ausgesetzt sind.
Bilder, Spekulationen, Falschmeldungen, unreflektierte Kommentare fliegen den Menschen nur so um die Ohren.
Sollen wir uns denn einfach abkapseln und Augen und Ohren schliessen?
Nein. Aber wir müssten dafür sorgen, dass die Nachrichten langsamer auf uns einprasseln und wir sie auch langsamer verarbeiten können. Nur so haben wir eine Chance, eine vernünftige Haltung zur Welt und ihren Herausforderungen zu entwickeln.
Im Grunde müssten wir lernen, uns für nicht so bedeutend zu halten.
Davon sind wir weit entfernt. So gibt es heute beispielsweise nicht wenige Menschen, die im Zusammenhang mit Corona abstruse Verschwörungstheorien nachbeten, die sie auf Social-Media-Kanälen aufgeschnappt haben.
Im Roman brechen mehrere Figuren förmlich zusammen. Haben Sie die Hoffnung, dass wir aus diesem Hamsterrad der Überforderung irgendwann wieder herauskommen?
Ehrlich gesagt nein. Wir haben die auf ständige ökonomische Optimierung getrimmte westliche Lebensphilosophie zu stark verinnerlicht, als dass wir gelassener werden könnten.
Im Grunde müssten wir lernen, uns für nicht so bedeutend zu halten. Nicht zu allem immer gleich eine Meinung haben zu wollen und viel mehr über uns selbst zu lachen.
Aber dafür reicht es wohl nicht, sich zwischendurch ein wenig mit Buddhismus zu beschäftigen oder ein Achtsamkeits-Seminar zu besuchen.
Das Gespräch führte Felix Münger.