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Gesellschaft am Anschlag Autor Jens Steiner: «Wir haben den digitalen Raum nicht im Griff»

In seinem neuen Buch «Ameisen unterm Brennglas» zeichnet der Schweizer Schriftsteller Jens Steiner das Bild einer Gesellschaft, die überfordert ist. Für ihn ist das keine blosse Fiktion.

Jens Steiner

Schweizer Autor

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Jens Steiner studierte in Zürich und Genf Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft. Danach war er als Lehrer und Verlagslektor tätig.

2013 erhielt er für sein Buch «Carambole» den Schweizer Buchpreis. Jens Steiner lebt in Zürich.

SRF : In Ihrem Roman schildern Sie eine Gesellschaft, die in einem zutiefst besorgniserregenden Zustand ist. Was macht Ihnen persönlich am meisten Sorgen?

Jens Steiner: Wie wir mit der permanenten Nachrichtenflut umgehen, wie wir sie untereinander verbreiten. Wir stecken tief im digitalen Zeitalter, aber wir haben den digitalen Raum nicht im Griff, so wenig wie wir uns in diesem Raum selbst im Griff haben.

Was läuft denn konkret falsch?

Unser Umgang mit Nachrichten ist durch die Digitalisierung verstärkt auf Reizen aufgebaut. Es werden Regionen unseres Gehirns angesprochen, die auf kleine Belohnungen ansprechen.

Ständig sind wir daran, unsere Leben und die der anderen anzuschauen und zu beurteilen. Das setzt uns unter Stress.

Ich bezweifle, dass wir irgendwann die Fähigkeit haben, mit all diesen Reizen souveräner umzugehen – in den sozialen Medien und überhaupt im digitalen Raum.

Was ist der Preis, den wir bezahlen?

Wir sind kaum mehr bei uns selbst und auch nicht mehr in der Lage, uns ein Bild von einer Sache zu machen. Ich glaube, dass wir zu viele fremdgesteuerte Bilder in uns tragen.

Das hängt unter anderem mit der alltäglichen Bilderflut zusammen: Man konsumiert über verschiedenste Kanäle zahllose Bilder und vergrössert die Masse noch, indem man Fotos von sich selbst und seinem Leben beisteuert.

Ständig sind wir daran, unsere Leben und die der anderen anzuschauen und zu beurteilen. Das setzt uns unter Stress – auch wenn wir so tun, als ob uns das Freude machen würde.

In Ihrem Roman arbeiten Sie diese Reizüberflutung mit einem brachialen Szenario heraus: Eine beispiellose Serie von Verbrechen verunsichert die Schweizer Öffentlichkeit. Die Figuren verlieren den Boden unter den Füssen, auch wenn sie von den Ereignissen vorerst gar nicht direkt betroffen sind. Was fehlt den Menschen?

Die Gelassenheit und die Distanz. Sie sind nicht geerdet und deshalb leicht zu verunsichern. Sie sind unglaublich schnell vermeintlich mitten in den Ereignissen drin, weil sie ihnen via Medien und Social Media unmittelbar ausgesetzt sind.

Bilder, Spekulationen, Falschmeldungen, unreflektierte Kommentare fliegen den Menschen nur so um die Ohren.

«Ameisen unterm Brennglas»: Worum geht's?

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Im aktuellen Roman «Ameisen unterm Brennglas» des 1975 geborenen Zürchers und Buchpreisträgers Jens Steiner überzieht ein fiktives Verbrecherpaar die Schweiz mit einer Serie von Gewaltakten.

Das Buch ist mal satirisch, mal empathisch gehalten und zeigt eine Gesellschaft in besorgniserregendem Zustand.

Im Zentrum stehen fünf ganz unterschiedliche Figuren, die allesamt auf ihre Weise vom Leben überfordert sind: So trägt etwa ein Italo-Schweizer ein unverarbeitetes Kindheitstrauma in sich. Ein Familienvater entfremdet sich von seiner Familie.

Eine alleinerziehende Mutter steht unter dem Zwang, sich permanent selbst optimieren zu müssen. Gemeinsam ist: Niemand nimmt das Leben gelassen.

Aufgrund der Verbrechen, über welche die Medien pausenlos berichten, läuft die an sich bereits gefährdete Situation der Figuren vollends aus dem Ruder. Sie werden alle in der einen oder anderen Weise mit den Gewaltakten konfrontiert.

Niemand erweist sich jedoch als fähig, vernünftig damit umzugehen. Vielmehr gewinnen bei den einzelnen Figuren die eigenen ungelösten Konflikte an Macht – und führen am Schluss in mehreren Fällen zu regelrechten Zusammenbrüchen.

«Ameisen unterm Brennglas» ist vielerlei: ein packender Kriminalroman, eine kritische Bestandesaufnahme unserer Gesellschaft - und eine wohltuende Mahnung, uns gelegentlich einmal wieder zu fragen, was uns im Leben eigentlich wichtig ist.

Sollen wir uns denn einfach abkapseln und Augen und Ohren schliessen?

Nein. Aber wir müssten dafür sorgen, dass die Nachrichten langsamer auf uns einprasseln und wir sie auch langsamer verarbeiten können. Nur so haben wir eine Chance, eine vernünftige Haltung zur Welt und ihren Herausforderungen zu entwickeln.

Im Grunde müssten wir lernen, uns für nicht so bedeutend zu halten.

Davon sind wir weit entfernt. So gibt es heute beispielsweise nicht wenige Menschen, die im Zusammenhang mit Corona abstruse Verschwörungstheorien nachbeten, die sie auf Social-Media-Kanälen aufgeschnappt haben.

Im Roman brechen mehrere Figuren förmlich zusammen. Haben Sie die Hoffnung, dass wir aus diesem Hamsterrad der Überforderung irgendwann wieder herauskommen?

Ehrlich gesagt nein. Wir haben die auf ständige ökonomische Optimierung getrimmte westliche Lebensphilosophie zu stark verinnerlicht, als dass wir gelassener werden könnten.

Im Grunde müssten wir lernen, uns für nicht so bedeutend zu halten. Nicht zu allem immer gleich eine Meinung haben zu wollen und viel mehr über uns selbst zu lachen.

Aber dafür reicht es wohl nicht, sich zwischendurch ein wenig mit Buddhismus zu beschäftigen oder ein Achtsamkeits-Seminar zu besuchen.

Das Gespräch führte Felix Münger.

Buchhinweis

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Jens Steiner: «Ameisen unterm Brennglas», Arche 2020.

SRF 2 Kultur, Kontext, 20.08.2020, 9:00 ; 

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