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Gewalt im Lateinkanon «Wir müssen die ganze Geschichte der Gewalt gegen Frauen kennen»

In Klassikern des Lateinunterrichts kommen Frauen oft nicht gut weg. Ihnen wird Gewalt angetan, sie werden entführt, vergewaltigt, gedemütigt oder getötet.

Soll man solche Texte überhaupt noch lesen? Unbedingt, sagt die Altphilologin und ehemalige Lehrerin Katharina Wesselmann. Denn die Texte aus dem Unterricht zu verbannen, bewirke am Ende das Gegenteil .

Katharina Wesselmann

Altphilologin

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Katharina Wesselmann, geb. 1976 in Tübingen, ist Professorin für Fachdidaktik der Alten Sprachen an der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Sie studierte griechische und lateinischen Philologie und Kunstwissenschaft an der Universität Basel. Parallel zu ihrer akademischen Laufbahn war sie 14 Jahre Latein- und Griechisch-Lehrerin an einem Basler Gymnasium.

SRF: In antiken Texten werden nicht selten Frauen vergewaltigt, verstümmelt oder gedemütigt. Sollen wir das überhaupt noch lesen?

Katharina Wesselmann: Ja, und zwar gerade deswegen. Denn wir können unsere modernen Positionen gegen Gewalt an Frauen nur aufrecht erhalten, wenn wir die ganze Geschichte kennen.

Die römisch-griechische Antike ist sozusagen die Wiege der Neuzeit – nicht nur im Guten, sondern eben auch im Bösen. Viele frauenverachtende Traditionen, die wir heute kritisieren, finden wir in den antiken Texten wieder.

Die Antike ist die Wiege der Neuzeit – auch im Bösen.

Über die Jahrtausende haben sie sich perpetuiert. Wir sollten das nicht ignorieren, sondern konkret problematisieren.

Gibt es neben dem Thema Gewalt gegen Frauen noch andere Beispiele für Traditionen, die aus heutiger Sicht problematisch sind?

Natürlich. Zum Beispiel das Thema Sklaverei oder Imperialismus. Die Sklavenhaltung im 19. Jahrhundert in den USA oder der britische Imperialismus haben sich später explizit auf antike Traditionen berufen.

Sie kritisieren, dass in den Schulen zu wenig umsichtig mit den alten lateinischen Klassikern umgegangen wird. Wie werden solche Texte denn heute in den Schulen gelesen?

In einer klassischen Schulausgabe, etwa von Ovids «Metamorphosen», finden sich die drastischsten Texte gar nicht. Also die Texte, in denen es um Vergewaltigung, Mord und Totschlag geht.

Was man den Schülern zu lesen gibt, ist eine verharmloste, man könnte sagen zensierte Ausgabe. Leichtere Kost. Aber selbst darin gibt es Geschichten, die eindeutig sexuelle Gewalt thematisieren.

Die Schüler lesen eine verharmloste Ausgabe.

Es ist einfach, diese Stellen als Lehrperson zu marginalisieren und zu banalisieren. Man spricht entweder gar nicht darüber – oder wählt Ausflüchte wie: Damals war das halt so. Ich gestehe, dass ich das auch selber jahrelang gemacht habe. Heute ist es zum Glück anders.

Wie soll man Ihrer Meinung nach heute im Unterricht mit heiklen Textstellen umgehen?

Die Texte sind ja meist sehr differenziert und komplex. Das kann man den Schülerinnen und Schülern aufzeigen. Etwa, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Haltung einzelner Figuren, der Haltung des Erzählers und der Haltung des Dichters.

Veranstaltungshinweis

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Katharina Wesselmann hält am 28. März an der Universität Basel einen Vortrag zum Umgang mit sexueller Gewalt im Literaturkanon: «Der Täter als Opfer: #metoo und die Augusteische Liebesdichtung».

Gleichzeitig kann man anhand dessen darauf hinweisen, dass Haltungen, die heute als problematisch gelten, eine lange Tradition haben. Dass sie irgendwo herkommen und nicht erst kürzlich entstanden sind.

Was würden wir denn verlieren, wenn wir diese Texte als Gesellschaft einfach nicht mehr lesen und behandeln?

Wir verlören das Verständnis dafür, wo wir herkommen. Im Jahr 2019 gibt es konservative und progressive Kräfte in der Gesellschaft. Es ist wichtig für den Dialog und das gegenseitige Verständnis, dass wir uns klarmachen, in welchen Traditionen wir stehen.

Wenn wir die Texte nicht mehr lesen, verlieren wir das Verständnis dafür, wo wir herkommen.

Dazu gehören antike Texte in allen ihren Facetten – aber nicht nur. Auch mittelalterliche Texte, Malerei ... Kurzum: Kunst aus allen Zeiten und in jeder Form.

Das Gespräch führte Susanne Schmugge.

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