«Mein Herz zittert vor Freude, wenn ich daran denke, dass ich ein Genosse dieser Zeit bin», schreibt der noch nicht ganz 30-jährige Gottfried Keller in den revolutionären Jahren um 1848. Jene Aufbruchszeit lässt sich durchaus mit unserer Gegenwart vergleichen.
Damals war es die Industrialisierung, die Entstehung des Bundesstaates, heute ist es die digitale Revolution, und wieder geht es darum, die Schweiz richtig aufzustellen.
In Gottfried Keller tobte es damals «wie in einem Vulkan». Den grossen «Haufen der Gleichgültigen und Tonlosen» wollte er wachrütteln und keine schweigende Mehrheit dulden.
«Es darf keine Privatleute mehr geben!»
Kategorisch meint Keller: «Nein, es darf keine Privatleute mehr geben!» Das heisst: Jeder mündige Bürger sollte nicht nur individualistisch vor sich hinleben, sondern sich bei Wahlen und Abstimmungen immer für das Gemeinwohl einsetzen. Selbst dem bewunderten Goethe verübelte es Keller, dass er sich im Alter von der Politik ferngehalten habe.
Begonnen hat Gottfried Keller als Radikalinski, der gern auch mit Urvätern des Sozialismus anstiess. 1861 wurde er, obwohl ihm sein Ruf als mürrischer Sonderling und notorischer Beizengänger vorauseilte, überraschend zum Staatsschreiber des Kantons Zürich gewählt. Nun lernte er den politischen Alltag von innen kennen. Machte ihn das versöhnlicher?
Im Alter politisierte Keller zwar kenntnisreicher, aber nicht unbedingt milder. Sein Zeitroman «Martin Salander» ist ein böses Alterswerk. Darin geisselt er die grassierende Korruption, Interessenpolitik und auch den übertriebenen Patriotismus. Und doch wollte Keller bei aller Verluderung der Politik kein «Verfallsprophet» sein.
Was bedeutet Freisinn?
Manche seiner Äusserungen mögen heute wie Wahlspots für die Freisinnigen klingen, so wenn er sagt: «Wer freisinnig ist, traut sich und der Welt etwas Gutes zu…» Aber was Keller unter «freisinnig», «bürgerlich» oder «liberal» verstand, deckt sich nur sehr bedingt mit dem heutigen FDP-Parteiprogramm.
Politik war für ihn vor allem eine Angelegenheit der Moral. Keller wollte sie nicht den Mächtigen und Lobbyisten oder gar den Karrieristen überlassen. Ihm missfiel das «geldstolze» Gebaren Alfred Eschers, der zwar ein Modernisierer war, aber als liberaler Präsident des Zürcher Kantonsparlaments zuweilen allzu autoritär auftrat.
Keller kritisierte die Gewinnsucht im «System Escher», das zu wachsenden sozialen Spannungen im Land führte. Die Übermacht des Ökonomischen gefährde die demokratischen Prinzipien.
Wenn «sich grosse Massen Geldes zusammenhängen, ohne auf tüchtige Weise erarbeitet und erspart worden zu sein, warnt der Schneidermeister Hediger im «Fähnlein der sieben Aufrechten», «dann wird es sich zeigen, ob der Faden und die Farbe gut sind an unserem Fahnentuch.»
Was würde Keller zur EU sagen?
Bei der Lektüre seiner Bücher drängt sich fast auf jeder Seite die Frage auf, was Gottfried Keller wohl zur heutigen Schweiz sagen würde. Ob er ein guter Europäer wäre? Vermutlich ja, auch wenn er heftig gegen Brüssel wie gegen jeden Zentralismus wettern würde.
In der Flüchtlingsfrage wäre er aufgeschlossen, weil er in seinem Denken selber oft von Migranten profitiert hat. Gegen den Primat des Wirtschaftlichen vor dem Politischen würde er noch immer anschreiben.
Google wäre ihm ein Graus
Wie unkontrolliert Internet-Giganten die politische Meinungsbildung veränderten und beeinflussen, wäre ihm ein Graus. Und wie wir heute seine Maxime «Kleider machen Leute» in «Selfies machen Leute» umwandeln, würde seinem Humor üppig Anschauungsmaterial liefern.
Er selber dürfte nach wie vor kein Handy besitzen. Oder zumindest nur ein antikes Nokia-Gerät.