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Harry Potter-Hype J.K. Rowling: «Die Geschichte hat sich selbstständig gemacht»

450 Millionen verkaufte Bücher: Warum wird eine Nervensäge mit Brille und Narbe zum globalen Star? Ein Erklärungsversuch.

Das Wichtigste in Kürze

  • Der Erfolg der Harry-Potter-Romane liegt darin begründet, dass die Reihe alle grossen Themen der Menschheit in sich vereinigt.
  • Harry Potter ist die Odyssee eines kleinen Jungen, der erwachsen wird und in einem apokalyptischen Showdown die Welt rettet.
  • Einzigartig ist die Asymmetrie dieses Kampfes.

Was eine Geschichte ausmacht

Jahrelang hat J.K. Rowling geschrieben. Keiner wollte ihr Buch. Dann, am 26. Juni 1997 geht es an den Start – mit nur gerade 500 Exemplaren. 20 Jahre später sind mehr als 450 Millionen Bücher der Harry-Potter-Reihe verkauft, und sie ist in 77 Sprachen übersetzt.

Was macht eine Geschichte, ein Kunstwerk aus? Jean-Christophe Ammann, der grosse Schweizer Kurator und Museumsleiter, hat das einmal in einer legendären Textperformance so erklärt: Es gebe grundsätzliche Themen, die jeden Menschen berühren: sogenannte Mythologeme. Zumindest eines davon müsse in einem Werk prominent vorkommen. Diese Mythologeme der Menschheit teilte Jean-Christophe Ammann in vier Themenkomplexe.

1. Tod, Verlust eines geliebten Menschen, Krieg

Schaut man auf Harry Potter, dann beginnt die Geschichte nach dem Tod von Harrys Eltern und endet in einem apokalyptischen Showdown des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse. Harry Potter ist ein Kind im Krieg.

2. Liebe und Hass

Die Freundschaft der jugendlichen Hauptfiguren Harry, Hermine und Ron ist eine Liebesgeschichte. Die Art wie die Mentoren Hagrid und Albus Dumbledore Harry zugetan sind, erinnert in Tiefe und Bedingungslosigkeit an elterliche Liebe. Demgegenüber steht der ebenso bedingungslose Hass auf das personifizierte Böse Voldemort und alle seine Abgesandten.

3. Einsamkeit

Einsamkeit im Sinne von: Von «Gott verlassen» und «mutterseelenallein». Es gibt diesen Augenblick. Wenn Harry nachts das Haus bei Verwandten verlässt, die ihn wie Dreck behandeln, nicht weiss wohin und sich auf einen Bordstein setzt. Gegenüber lauern Augen im Gebüsch. Ein leeres Kinderkarussel dreht sich geisterhaft im Wind. Kindheit ist keine Option mehr. Harry muss weiter. Allein .

4. Existenzielle Prüfung

Die Geschichte ist von Beginn an überschattet von dem asymmetrischen Kampf eines Kindes gegen das überhöhte Böse. Harry wird gegen Ungeheuer kämpfen, böse Zauberer besiegen, er wird Freunde verlieren.

Eines dieser Mythologeme würde schon reichen, damit eine Geschichte seine Leserschaft fesselt, sagte Jean-Christoph Ammann. In J.K. Rowlings Harry-Potter-Romanen finden sich alle vier.

J.K. Rowling erfand eine eigene Welt

Nicht nur die grossen Themen der Menschheit sind bekannt, sondern auch die Strickmuster, in denen Geschichten erzählt werden. Immer wieder begegnet man Geschichten, die wollen alles richtig machen und tun das auch und funktionieren trotzdem nicht. Weil man Geschichten einfach nicht am Reissbrett erfinden kann.

Hermine, Ron und Harry mit Zauberstab verstecken sich
Legende: Drei wie Pech und Schwefel kämpfen gegen einen übermächtigen Gegner. Keystone

Bei Harry Potter bekommen Millionen Leser diesen Eindruck nicht. Das liegt an der Fantasie der Autorin: Sie löst die Welt auf, wie wir sie kennen. Und sie schafft eine neue mit Ahnungen, Unerklärlichem und Gegenwelten – eine eigene Welt bis in die kleinsten Details:

Mit einer Schule für Zauberlehrlinge, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, mit Zauberstäben, schiefen Gassen, fliegenden Autos, mit Phönixen, die auf Schreibtischen wiederauferstehen, mit einem Gleis auf dem Bahnhof Kings Cross, das man nur mit dem Kopf durch die Wand betreten kann und mit vampirhaften Schreckgestalten, die einem die Seele aussaugen.

Rowling hatte am Anfang die Geschichte nur grob im Kopf, sagt sie. Die Geschichte hat sich selbstständig gemacht. Die Autorin ist ihr gefolgt. Die Konstruktion ist nicht sichtbar.

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Was Harry Potter auszeichnet ist die Asymmetrie

Joanne K. Rowling ist nicht die Einzige, die eine eigene Welt erfunden hat. Das gab’s schon – von «Alice im Wunderland» bis zu «Der Herr der Ringe». Was Harry Potter aber auszeichnet ist die Asymmetrie: Ein Kind wächst heran und rettet die Welt. Nicht mehr. Weil dieser Harry im Sinne der klassischen Tragödie ahnt, dass er diesem Kampf nicht entgehen kann.

Man mag das Schicksal oder Bestimmung nennen. Da ist J.K.Rowling, so neu ihre Welt sein mag, doch ganz in der antiken Klassik. Kinder wollten das lesen. Erwachsene auch.

Die Geschichte von einem Zauberlehrling, die alles transportiert, was es an grossen Themen gibt. Und Harry Potter ist eine Odyssee. Am Schluss kommt der Held bei sich, bei seinem neuen Selbst an. Erst da ist der Reisende an seinem Ziel angekommen.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt. 26. Juni 2017, 17.08 Uhr

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