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Herman Melvilles «Bartleby» «Kei Luscht»: Warum passiver Widerstand gut in unsere Zeit passt

Er ist der berühmteste Müssiggänger der Literaturgeschichte: Melvilles «Bartleby». Warum uns die Figur bis heute fasziniert.

«I would prefer not to» (Ich möchte lieber nicht) – dieser Satz ist weltberühmt. Gesagt hat ihn Bartleby und geschrieben wurde er vom US-Autor Herman Melville. Zu Lebzeiten ein erfolgloser Schriftsteller, heute berühmt für gleich zwei Klassiker: Für den Wälzer «Moby Dick» und für die schmale Geschichte «Bartleby, der Schreiber».

Historisches Porträt eines Mannes mit Bart.
Legende: Mehr als nur «Moby Dick»: Herman Melville erschuf 1853 mit «Bartleby, der Schreiber» eine kafkaeske Figur – lange vor Kafkas Geburt. imago images/United Archives International

Bartleby ist bei einem Notar an der Wall Street als Kopist angestellt und schreibt fleissig Dokumente ab. Bis er eines Tages einen Vollstopp reisst und auf alles dieselbe Antwort hat: «I would prefer not to.»

Warum entzieht er sich?

Die Philosophie-Professorin Christine Abbt erklärt, warum diese literarische Figur fasziniert: «Die Figur Bartleby sagt nicht ja und nicht nein. Sie erkundet einen Zwischenraum. Sie ist passiv, aber auch aktiv. Sie ist sanft und mild, aber auch beharrlich und stur.» Bartleby gibt bis zum Schluss der Geschichte keine Antwort. Als Leser oder Leserin sucht man die ganze Zeit nach Indizien, warum er handelt oder eben nicht handelt.

Was hat dieser Bartleby? Ist sein «Ich möchte lieber nicht» wirklich ein «Nein»? Rebelliert er? Hat er einfach keine Lust auf seinen Job? Der kurze Text wirft viele Fragen auf.

Doch 1853, zur Zeit der Publikation, bleibt «Bartleby, der Schreiber» ohne Wirkung. Die faszinierende Figur und sein «Ich möchte lieber nicht» machte erst in den 1990er-Jahren Furore. Dank dem Philosophen Gilles Deleuze, der in ihm eine neue Form des Protests sah.

Passiver Widerstand als Protestform

Die Philosophin Christine Abbt sieht in diesem Rebellen auch eine romantische Seite: «Bartleby hat etwas, das in uns anklingen lässt, dass wir auch aussteigen möchten, aber nicht können. Es steckt vielleicht das, was am Anfang jeder Rebellion ist, nämlich die Sehnsucht nach etwas anderem.»

Person im schwarzen T-Shirt mit Aufschrift 'I WOULD PREFER NOT TO', im Gespräch mit einer anderen Person.
Legende: «I would prefer not to» ist auch zum offiziellen Motto von Slavoj Žižek geworden. Er gilt als einer der bekanntesten, aber auch umstrittensten Philosophen der Gegenwart. SRF

Diese Sehnsucht sei politisch, sagt sie, aber: «Bartleby verharrt in seinem Unbehagen und zieht sich zurück. Für politische Bewegungen ist das nicht erfreulich, aber es erinnert uns daran, dass es vielleicht Möglichkeiten gibt, von denen wir vergessen haben, dass sie existieren.»

In den 2000er-Jahren macht Bartleby dann nochmals Karriere: Sein «Ich möchte lieber nicht» verkörpert einen passiven Widerstand. Diesen interpretiert der Philosoph Slavoj Žižek als radikale Systemkritik. Und die Bewegung «Occupy Wall Street», die Alternativen zum bestehenden System sucht, sieht sich von Bartlebys Haltung inspiriert.

Person vor temporärer Bibliothek mit Büchern im Freien.
Legende: «Bartleby» gehört zum festen Repertoire der «Occupy»-Bibliothek – und «Ich möchte lieber nicht» zu einem der Slogans des kapitalismuskritischen Protests. (2011) Getty Images/Ramin Talaie

Warum das alles?

Soeben ist eine neue Übersetzung von «Bartleby, der Schreiber» erschienen, vom Schriftsteller Karl-Heinz Ott, der ein Nachwort zur späten Karriere des Bartlebys geschrieben hat.

Buchhinweis

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Herman Melville: «Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte aus der Wall Street». Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ott. Kampa Verlag, 2025.

Melville starb als erfolgloser Schriftsteller. Warum hatte er zu seiner Zeit, im 19. Jahrhundert, keinen Erfolg? Karl-Heinz Ott meint: «Seltsamerweise musste man ja auf einen Kafka warten, damit Bartleby bekannt werden konnte und alle sagen konnten, Bartleby ist eigentlich eine frühe Kafkafigur, und Kafka fasziniert ja seit langem. Das Paradoxe, dass wir eigentlich nicht verstehen, warum seine Figuren so sind oder so handeln oder so nicht handeln, wie sie handeln.»

Christine Abbt ergänzt: «Die Literatur ist voll von solchen Figuren, die uns einen anderen Blick auf Sprache werfen lassen und den rationalen Zugang infrage stellen.» Bartlebys Schweigen bringt die Lesenden zum Reden. Diese leise Stimme des «Warum das alles?» kennen wir wohl alle. Und Bartlebys Antwort darauf: «Ich möchte lieber nicht».

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