Für ihr Sachbuch «Von Casanova bis Churchill» sammelte die Literaturwissenschaftlerin Barbara Piatti historische Reiseberichte berühmter Persönlichkeiten aus Kunst, Forschung und Politik. Tolstoi ist dabei, Dostojewski, Fontane, Kafka oder Hemingway. Aber auch Mendelssohn, Churchill oder Riefenstahl.
Als der Tourismus noch am Anfang stand
In der Zeit zwischen 1760 und 1946 suchten diese Persönlichkeiten in der Schweiz Erholung, Naturerlebnisse oder Inspiration. Alle 35 Porträtieren haben mit ihren Reisen die Schweizer Kulturgeschichte beeinflusst und ihre Tagebucheinträge oder Briefe erzählen uns von einer Zeit, in der der Tourismus noch am Anfang stand.
Wir haben Barbara Piatti über fünf Protagonisten und deren Reisegewohnheiten befragt:
Mit welchem berühmten Reisenden wären Sie gerne mitgereist?
«Gerne mit Franz Kafka. Er ist 1911 mit seinem besten Freund und Schriftstellerkollegen Max Brod unterwegs in der Schweiz. Wenn man ihre beiden Reisetagebücher liest, merkt man, dass sie es lustig hatten. Sie sind spontan, schlagen ungewöhnliche Reiserouten ein und kommentieren dann mit Humor ihre Erlebnisse: ‹Lächerliche Empfangsdame im Hotel, lachendes Mädchen führt immerfort weiter hinauf ins Zimmer, ernstes, rotwangiges Stubenmädchen. Kleines Treppenhaus. Versperrter eingemauerter Kasten im Zimmer. Froh, aus dem Zimmer heraus zu sein. Hätte gern Obst genachtmahlt.› Meistens kennt man Kafka nur von seinen schweren, düsteren Romanen, in seinen Reiseberichten kommt ein ganz anderer Mensch zum Vorschein.»
Welcher oder welche Reisende wäre Ihnen weniger sympathisch?
«Wahrscheinlich Leni Riefenstahl. Habe es mir lange überlegt, ob ich sie in meiner Anthologie überhaupt aufnehmen soll. Sie war aber auch eine faszinierende Jahrhundertfigur, natürlich mit einer problematischen Verbindung zum Dritten Reich, mit ihrem Olympiafilm 1936. Ich habe sie porträtiert, als sie 1929 in der Schweiz war: Da stand sie vor und nicht hinter der Kamera für einen Bergfilm am Piz Palü. Ich würde nicht gerne mit ihr reisen, weil sie schon als junge Frau und bis später ins hohe Alter sehr selbstverliebt war und ohne jeden Humor. Mit einer so egozentrischen Person würde ich nicht gerne unterwegs sein.»
Bei Gustave Flaubert kommt die Schweiz schlecht weg – hat er nicht vor allem über andere Gäste gelästert?
«Schon – aber er bringt die nötige Prise Humor mit. Er findet es absolut grauenvoll auf der Rigi. Sein Arzt hat ihn 1874 dorthin geschickt. Er sollte dort kuren, aber er hasst es und will zurück nach Paris und auf seinen Landsitz in der Normandie. Aber seine Hasstiraden in den Briefen, die er nach Hause schickt, sind einfach köstlich. Er findet die ganze Gesellschaft im Hotel Rigi Kaltbad unmöglich: ‹Diese Herren Ausländer, die im Hotel wohnen. Alles Deutsche oder Engländer mit Stöcken und Ferngläsern.› Dann ärgert er sich auch über die hässlichen, schlecht angezogenen deutschen Frauen, die ihm die Aussicht versperren. Der französische Schriftsteller hat niemanden zum Reden, alle sind ihm unangenehm und unsympathisch. Auf der Alp hat er dafür das Bedürfnis, drei Kälber zu umarmen.»
Wer hat am meisten für die Schweiz geschwärmt?
«Felix Mendelssohn Bartholdy hätte man als Tourismus-Werbetexter engagieren können. Er war umwerfend in seiner Begeisterung. Er reiste viermal durch die Schweiz – 1831 war er als 22-Jähriger zum ersten Mal da. Es muss eine grauenvolle, verregnete Saison gewesen sein, mit grossen Überschwemmungen am Thunersee. Alles ist aufgeweicht, seine Kleider, seine Malutensilien, und trotzdem schwärmt er: ‹Was grün heisst und Wiesen und Wasser und Quellen und Felsen, das weiss nur einer, der hier gewesen ist.› In all seinen Briefen und Tagebüchern findet man die pure Begeisterung über die Schweiz: ‹«Es ist kein Land wie dieses. Jeder Mensch müsste einmal in seinem Leben die Schweiz gesehen haben.›»
Welcher Reisebericht war für Sie besonders wertvoll?
«Ich habe viele hochstehende Texte gefunden von Weltliteraten wie Kafka, Conan Doyle oder Hemingway. Besonders wertvoll für mich ist aber ein Text von John Muir. Er war der Begründer der Nationalparks in den USA. Er hat sehr viel gemacht für den Naturschutz und ging auch mit US-Präsident Theodore Roosevelt wandern. Muir machte 1893 eine Schweizreise, um Gletscher zu erforschen. Darüber habe ich unpublizierte Tagebucheinträge aufgestöbert. Es ist eine Mischung aus Poesie und wissenschaftlichen Darstellungen. Er ist einer der sogenannten Exponenten des sogenannten ‹Nature Writing› in den USA. Seine Tagebucheinträge sind ungemein poetisch, wie Gesänge. Er beschreibt zum Beispiel die Rigi mit ihren Schotterschichten und Ablagerungen: ‹Welch grandioser Ausdruck von Gletschertätigkeit und fliessendem, singendem Wasser. Welche Notenblätter sind diese Schotterschichten. Steinpredigten, ja, und Steinlieder.›»