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Ein Junge mit einer langen Nase steht in der Prärie auf einem Stuhl und hält eine Zeitung mit der Aufschrift "Fake News".
Legende: Protagonist Louis de Montesanto erfindet für eine Londoner Zeitung spektakuläre Abenteuer, die er in der damaligen britischen Kolonie Australien erlebt haben wollte. Getty Images

Hochstapler-Roman Der grösste Lügner der Welt war Schweizer

Eine Lüge, die so gross ist, dass man sie gar nicht glauben kann – und gerade deshalb glauben sie alle: Der Schweizer Autor Michael Hugentobler erzählt in «Louis oder der Ritt auf der Schildkröte» die wahre Geschichte eines Hochstaplers.

«Er fragte sich, ob Wahrheit für eine Geschichte überhaupt nötig sei.» Es ist Louis de Montesanto, der so sinniert – und zum Schluss kommt, dass die Trennung zwischen Wahrheit und Fiktion überflüssig sei. Es komme nur auf die gute Story an, findet er, sie müsse die Sehnsüchte der Menschen befriedigen – «nach Grösse, Humor und Stärke in diesem tristen Leben.»

Ein Talent zum Lügen

Louis ist ein Lügenbaron. Ausser lügen kann er kaum etwas. Aber das kann er – und wie! Er betreibt es mit einer Dreistheit, die ihresgleichen sucht. Dies beginnt schon bei seinem Namen: Louis de Montesanto ist nicht sein richtiger Name. Und er ist auch kein französischer Adliger italienischer Abstammung, wie er behauptet.

Tatsächlich heisst der Mann Hans Roth. Er kommt aus ärmlichen Verhältnissen in einem Schweizer Bergdorf. In jungen Jahren läuft er von zu Hause weg, treibt sich in der weiten Welt herum und landet irgendwann in Australien.

Der Coup seines Lebens

Dort schlägt er sich als Taugenichts und Vagabund durchs Leben. Er schwängert zwei Frauen – und läuft zweimal davon. Er kehrt nach Europa zurück.

Buchhinweis

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Michael Hugentobler: «Louis oder der Ritt auf der Schildkröte». dtv, 2018.

In London dann landet er den Coup seines Lebens: Er denkt sich eine fiktive Lebensgeschichte aus – eine sagenhafte Aneinanderreihung unglaublichster Abenteuer.

Er sei in Australien über Jahre ein Kannibalenhäuptling gewesen. Man habe ihn als Gott verehrt. Er habe im Kampf Krokodile erdrosselt, und dies lediglich mit einem Blatt Papier! Er sei auf gigantische Goldminen gestossen. Und ja: Einen Hai habe er mit blosser Hand ins Jenseits befördert.

Die Medien verbreiten die Lügen

Louis de Montesanto spricht bei einer Zeitung vor. Die Redaktion fällt auf den Hochstapler herein. Sie druckt die Berichte «des grössten Abenteurers der Welt» als Fortsetzungsgeschichte.

Das Publikum ist elektrisiert und giert nach mehr. Bis – per Zufall – der Schwindel auffliegt. Louis de Montesanto fällt. Jetzt ist er der «grösste Lügner der Welt». Schande. Abstieg. Armut.

Michael Hugentoblers Roman besticht durch seine literarische Eleganz, den verspielten und gelegentlich närrischen Sprachwitz sowie die feine Ironisierung des Geschehens. Dabei bleibt offen, auf wen sie eigentlich zielt: auf den Hochstapler oder auf alle anderen, die ihm aufsitzen?

Michael Hugentobler guckt ernst in die Kamera.
Legende: Michael Hugentobler, selbst Journalist, schreibt in seinem Buch über die Verführbarkeit des Publikums und über die Mechanik der Medien. Dominic Nahr

Nach einer wahren Geschichte

Erschütternd ist der Umstand, dass Michael Hugentoblers Geschichte keine Fiktion ist. Nein: Louis de Montesantos Werdegang beruht auf der wahren Geschichte eines Hochstaplers, der im 19. Jahrhundert gelebt hat. Und der mit seinem betrügerischen Tun für einen veritablen Skandal gesorgt hat.

Der Mann hiess Henri Louis Grin und wurde 1847 in Gressy bei Yverdon geboren. Er nannte sich vornehm Louis de Rougemont, bereiste die Welt und versorgte das damalige renommierte Londoner «Wide World Magazin» mit gefälschten Abenteuergeschichten.

Sie erschienen 1899 gar als Buch. Kaum eine Zeitung, die Louis de Rougemont nicht abdruckte und feierte. Bis zur Enttarnung und zum Skandal.

«Fake News» gab es schon immer

Der 1975 in Zürich geborene Michael Hugentobler ist von Haus aus Journalist. Sein glänzendes literarisches Debüt macht am historischen Stoff die Mechanik von «Fake News» und «alternativen Fakten» sichtbar. Diese sind ganz offensichtlich keine Erfindung der Ära Trump und des vielzitierten «postfaktischen Zeitalters».

Nein, es gab sie schon früher: schamlose Angeber, ein sensationslüsternes Publikum, das sich blenden lässt – und unkritische Medien, die kläglich versagen in ihrer Kernaufgabe, die Wahrheit zu hüten.

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