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Im Alter von 69 Jahren Hoch gelobt und tief gefallen: Sibylle Lewitscharoff gestorben

Sibylle Lewitscharoff war eine eigenwillige Stimme: schweifend, irrlichternd in Stil und Haltung. Eine Autorin, die sich und andere nicht schonte. Sie wollte es so. Das Aufsehen, das sie erregte, konnte sie geniessen. Nachruf auf eine Nonkonformistin.

Sibylle Lewitscharoff kam spät auf die literarische Bühne, dafür mit überraschender Wucht. Sie war Mitte 40, als sie mit ihrem Text «Pong» 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt gewann. Pong, die Welt aus der Sicht eines Verrückten auf «höchstem sprachartistischen Niveau», wie die Jury urteilte.

Ein eigener Ton wird in dieser Geschichte angeschlagen: sonderbar und stilistisch aus den Angeln gehoben. Der Text brachte für Lewitscharoff den Durchbruch bei Kritik und Öffentlichkeit.  

Sibylle Lewitscharoff zwischen zwei Kolleg:innen mit einem Blumenstrauss in der Hand.
Legende: 1998 wurde Sibylle Lewitscharoff (Bildmitte) der Bachmann-Preis verliehen. Die Entscheidung war mit vier zu drei Stimmen denkbar knapp. AP Photo/Gert Eggenberger

Prägende Ereignisse goss sie in Buchform

Lewitscharoff wurde 1954 als Tochter einer deutschen Mutter und eines bulgarischen Vaters in Stuttgart geboren. Sie war erst elf Jahre alt, als ihr Vater, ein Gynäkologe, Suizid beging. Das Ereignis bestimmte ihr Leben und drückte sich verdeckt oder explizit in ihren Büchern aus.

Etwa in «Apostoloff». Die Geschichte erzählt von der Überführung des exhumierten Vaters nach Bulgarien. 2009 bekam sie dafür den Preis der Leipziger Buchmesse verliehen.

LSD für den Lesestoff

In Berlin, wo sie seit Jahrzehnten lebte, hatte Lewitscharoff Religionswissenschaft und Literatur studiert. Theologische Themen und ein spielerischer Hang zur öffentlichen Polemik prägten ihr Interesse. Früh entstand ihre Neigung zum Surrealismus und fantastischen Ausschweifungen. Sie experimentierte mit LSD und blieb auch viel später dieser Episode ihres Lebens treu.

Die wichtigsten Werke von Sibylle Lewitscharoff

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Ihr persönlichstes Buch: «Apostoloff» (2009, Suhrkamp Verlag)

Sibylle Lewitscharoffs bulgarischer Vater hatte sich das Leben genommen, als sie 11 war. Mit 55 schickte sie ihm einen Roman hinterher, der vor Wut und versteckter Liebe fast platzte.

Zwei Schwestern lassen sich mit den väterlichen Gebeinen von Stuttgart ins verachtete Bulgarien chauffieren. Daraus entspinnt sich eine Bestattungsgroteske, eine bizarre Familiengeschichte, ein satirischer Reisebericht und eine trotzige Erkundung der eigenen Wurzeln.

Ihr bekanntestes Buch: «Blumenberg» (2011, Suhrkamp Verlag)

Sibylle Lewitscharoff liebte den grellen Humor und die Fantastik. Ihre Einbildungskraft kannte keine Grenzen. Dem deutschen Philosophen Hans Blumenberg, ein bahnbrechender Metaphernforscher, setzte sie einen Löwen in die Studierstube, den nur er sehen konnte. Eine Herausforderung, die auch Blumenbergs Nachdenken über letzte Fragen begleitete.

Franziska Hirsbrunner, SRF-Literaturredaktion

Zu den Helden ihres bekanntesten Buches wurden der deutsche Philosoph Hans Blumenberg und ein Löwe. Ein Löwe, den nur der Philosoph sehen kann: im Arbeitszimmer, bei Vorlesungen und unterwegs. Der Roman, inspiriert durch einen Text des Philosophen, machte Lewitscharoff endgültig zum Liebling der Kritik.

Lewitscharoff sitzt auf einem Stuhl mit ihrem Buch in der Hand.
Legende: Die Autorin bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2011 mit ihrem Roman «Blumenberg». Thomas Lohnes/dapd

Die Jurys liebten sie

Sie wurde Mitglied von Akademien in Darmstadt und Berlin. Hielt Poetik-Vorlesungen in Frankfurt und Zürich und wurde Stipendiatin der Villa Massimo in Rom. Zudem sammelte sie Preise und Ehrungen, bis zum Georg-Büchner-Preis, der ihr 2013 verliehen wurde.

Ihre Dankesrede zu diesem Anlass war alles andere als konform. Sie sprach darin kaum von Büchner, dafür von Jakob Michael Reinhold Lenz. Lenz, der Büchner nur als Titelfigur einer Erzählung diente. Das war Absicht und Andeutung.

Das Ende einer Erfolgsstory

Ihre Rede im «Staatsschauspiel Dresden» wurde wenig später zur Zäsur. Die Vortragsreihe dort ist seit Jahrzehnten etabliert. Lewitscharoff machte daraus einen Skandal. Sie sprach über Leben und Tod, über die Machbarkeit des Lebens unter den Möglichkeiten der modernen Wissenschaft.

Religiös-ethisch motiviert, wollte sie Grenzen setzen: Grenzen des Wünschbaren. Das misslang. Ihr fahriges Vokabular legte auch die Abwege frei, die in ihrer radikalen Gegenthese zur Gegenwart verdeckt sind.

Der Eklat um die Dresdner Rede

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Sibylle Lewitscharoff trug gerne dick auf und war sich nie zu schade für einen Skandal. Aber ihre Rede «Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod» am Dresdner Schauspielhaus im März 2014 wurde zum grössten Eklat ihrer Karriere.

Haarsträubende Vergleiche

Plötzlich hob Lewitscharoff zu einer Brandrede gegen die Fortpflanzungsmedizin an. Sie setzte sie in Analogie mit dem Lebensborn-Projekt der Nationalsozialisten und sprach von «Halbwesen», die durch künstliche Befruchtung entstünden. Auch Leihmutterschaft sei «absolut grauenerregend».

Ein Sturm der Entrüstung brach los. Für die Diffamierung künstlich gezeugter Menschen entschuldigte sich die vielfach preisgekrönte Autorin. Es half ihr nichts. Die Rede blieb ihr Schandfleck. Und sie selbst mochte nicht zurücknehmen, dass sie der Meinung war, der Mensch sollte nicht in Gottes Handwerk pfuschen.

Franziska Hirsbrunner, SRF-Literaturredaktion

Nach dieser Rede wirkte sie wie aus der Zeit gefallen. Sie habe die «wunderbare Chaussee des Erfolgs» verlassen. Ihre Bücher fanden nicht mehr die grosse Resonanz wie einst. Aber sie schrieb weiter: mehrfach über Dante und vom Himmel über Berlin.

Sibylle Lewitscharoff war seit 2010 an Multipler Sklerose erkrankt. Am Samstag, dem 13. Mai, ist sie nun in Berlin gestorben, wie der Suhrkamp Verlag unter Berufung auf das Umfeld der Autorin mitteilte.

Radio SRF 2 Kultur, Nachrichten, 14.04.2023, 16:00

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