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Dostojewskij neu übersetzt Im Kerker der eigenen Vernunft

Damals eine Abwehr gegen die Technikgläubigkeit, heute aktueller denn je: Dostojewskijs «Aufzeichnungen aus dem Abseits».

«Ich bin ein kranker Mann. Ich bin ein bösartiger Mensch. Ein unansehnlicher Mensch bin ich.» Kein noch so übles Prädikat scheint der namenlosen Hauptfigur in Fjodor Dostojewskijs «Aufzeichnungen» zu genügen, sich selbst zu erniedrigen.

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Dostowjeski, 2.Fassung , gelesen von Vincent Leittersdorff
16:45 min
abspielen. Laufzeit 16 Minuten 45 Sekunden.

Der etwa 40-jährige Mann, um den es geht, ist ein Aussenseiter, der irgendwo in einem Loch in Sankt Petersburg vor sich hin vegetiert.

Soziale Kontakte meidet er. Arbeiten tut er nicht. Eine kleine Erbschaft ermöglicht ihm die Finanzierung seines bescheidenen Daseins.

Die Nichtigkeit des Strebens

Von morgens bis abends versinkt er – einem psychischen Rausch gleich – in zutiefst destruktiven Gedanken. Er hasst seine Mitmenschen und sich selbst. Gleichzeitig überhöht er sich krankhaft. Er sei «klüger als alle andern».

Die Menschen seiner Umgebung mit ihren gesellschaftlichen Erfolgen könnten nicht verstehen, dass all ihr Tun nichtig sei.

Buchhinweis

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Fjodor Dostojewskij: «Aufzeichnungen aus dem Abseits», Dörlemann 2016.

In der Sicht des Protagonisten ist die Welt zutiefst irrational und vom Chaos bestimmt. Die Prinzipien der Mathematik und Naturwissenschaften sind letztlich nicht beweisbar, nicht einmal ob zwei mal zwei tatsächlich vier gibt. Auch fünf wäre ein «wunderhübsches Sächelchen».

Und: «Über die Weltgeschichte kann man sagen, was man will. Nur eins kann man von ihr nicht sagen, – dass sie vernünftig sei.»

Der verlorene Mensch

Wer ist der Mann? Ein pubertierender Rebell? Ein Querulant? Ein Irrer? Vielleicht. Aber nicht nur. Denn er nimmt mit seiner Kritik des Rationalismus vieles vorweg, was später auch Nietzsche und dann die Existenzialisten beschäftigt hat: Der Lauf der Welt spottet jeder Sinnhaftigkeit.

Zwei mal zwei gleich vier, meine Herrschaften, das ist nicht das Leben, das ist der Anfang vom Tod.
Autor: Fjodor Dostojewskij

Es gibt keine übergreifende Kraft, die ordnend eingreifen würde. Der Mensch ist auf sich alleine gestellt.

Zeilen der Abwehr

Dostojewskijs Text ist damals, im Zeitalter der Industrialisierung, auch als Abwehr gegen die im Westen und Osten verbreitete Technikgläubigkeit zu verstehen.

Gegen einen Materialismus, welcher der Emotionalität und allem Unvernünftigen die Daseinsberechtigung abspricht: «Zwei mal zwei gleich vier, meine Herrschaften, das ist nicht das Leben, das ist der Anfang vom Tod.»

Verstrickung im Widerspruch

Dostojewskij hat diese Figur, die aus einer radikalen Ehrlichkeit heraus alles negiert, in seinen späteren Romanen weitergetrieben. Sei es der Mörder Raskolnikow in «Verbrechen und Strafe» oder die Nihilisten in den «Dämonen» – sie alle stellen die Fundamente der menschlichen Existenz grundsätzlich in Frage und verstricken sich dabei in unlösbare Widersprüche.

Die Vielstimmigkeit in der Form

Meisterhaft gestaltet ist die Figur jedoch bereits in den Aufzeichnungen: Das Paradoxe im Denken zeigt sich in Sprache und Form.

Einem vielstimmigen Chor gleich stehen Dialoge, innere Monologe, Kommentare, Ansprachen ans Lesepublikum gleichberechtigt nebeneinander – chaotisch, sich widersprechend, korrigierend, konterkarierend und ad absurdum führend.

Die neue Übersetzung des Schweizer Slawisten Felix Philipp Ingold versucht eben diesem Stil durch eine möglichst textnahe Übertragung gerecht zu werden.

Dies mag über weite Strecken gelingen, manchmal geht es jedoch auf Kosten einer flüssigen Lesbarkeit des Textes.

Aussenseitertum im Zentrum

Und der Titel? Ältere Übersetzungen heissen «Aufzeichnungen aus dem Untergrund», andere verwenden den Begriff «Kellerloch». Ingold hat sich für das «Abseits» entschieden. Er betont dadurch das Aussenseitertum des Protagonisten.

Sicher mit einem gewissen Recht. Verloren gehen dabei jedoch Assoziationen, die Dostojewskij mit dem «Untergrund» – so die wörtliche Übersetzung aus dem Russischen – bewusst beabsichtigte.

Schrei nach Freiheit

Auch in der neuen Übersetzung lässt sich der Text jedoch als bis heute aktuell gebliebener Schrei nach Freiheit lesen – gegen den Zwang zur Anpassung in der durchrationalisierten Leistungsgesellschaft.

Der Erzähler bezeichnet sich selbst als «Paradoxialist». Seine Bestimmung ist es zu revoltieren und vermeintlichen Gewissheiten den Krieg zu erklären – auch wenn er sich dabei psychisch aufreibt. Der Mann könnte auch heute leben.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 Beste Bücher, 25.12.2016, 21:00 Uhr

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