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Joël Dicker «Fakten lähmen die Kreativität»

Joël Dicker ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Schweiz. Sein Bestseller «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» wurde gerade in den USA als Miniserie verfilmt, und nun kommt der jüngste Roman des Genfers auf Deutsch heraus: «Das Verschwinden der Stephanie Mailer».

Was das Geheimnis seines Erfolges ist und warum es ihn in Wahrheit gleich zweimal gibt, hat uns Joël Dicker im Gespräch verraten.

SRF: Was ist Ihr Erfolgsrezept?

Joël Dicker: Meine Authentizität. Mir ist es von Beginn weg gelungen, zwischen zwei Joëls zu unterscheiden. Der eine sitzt jetzt Ihnen gegenüber, gibt Interviews, macht Lesungen und vertritt nach aussen hin den Schriftsteller Joël Dicker.

Aber dann gibt es noch den anderen Joël. Jenen, der sich völlig von der Öffentlichkeit zurückzieht und nichts anderes macht als zu schreiben. Dieser Joël hat sich durch den ganzen Hype hindurch überhaupt nicht verändert.

Es ist mein grosses Glück, dass ich bis heute stets genau jene Bücher schreiben durfte, die ich will – ohne jegliche Kompromisse eingehen zu müssen. Ich bin mir selber als Autor treu geblieben, vertraue meiner eigenen Begeisterung. Das Publikum spürt und schätzt das.

Sie haben mir einmal gesagt, jedes Buch sei auch ein Abenteuer. Worin bestand das Abenteuer bei Ihrem neuen Roman «Das Verschwinden der Stephanie Mailer»?

Ich hatte mir vorgenommen, mich eingehender mit der Figurenzeichnung zu beschäftigen. Und ich wollte auch unbedingt einmal eine starke Protagonistin in den Mittelpunkt stellen. So entstand die Polizistin Anna Kanner.

«Das Verschwinden der Stephanie Mailer»

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Ausgerechnet am Abend, als in der Kleinstadt Orphea das allererste Theaterfestival eröffnet wird, geschieht in unmittelbarer Nähe ein grausames Verbrechen.

Der Bürgermeister, seine Frau und sein Sohn werden in ihrem Haus erschossen. Auch eine zufällige Passantin bekommt eine tödliche Kugel ab. Der Mehrfachmord wirft Rätsel auf, aber ein Schuldiger ist trotzdem bald gefunden.

20 Jahre später behauptet die Journalistin Stephanie Mailer, der wahre Täter sei noch immer auf freiem Fuss und bezahlt diese Ankündigung ebenfalls mit dem Leben. Ihr Wissen nimmt sie mit ins Grab.

Anna Kanner, eine talentierte, besonnene Polizistin setzt alles daran, die Verbrechen aufzuklären. Dabei stösst sie auf die dunklen Geheimnisse scheinbar anständiger Bürger und realisiert: die Idylle an der amerikanischen Ostküste trügt.

Einmal mehr gelingt Joel Dicker eine süffige Geschichte, in der er raffiniert zwei Zeitebenen miteinander verschränkt. Allerdings wäre wünschbar gewesen, er hätte seine Phantasie zuweilen etwas besser in Griff bekommen und einzelne Figuren etwas weniger klischeehaft gezeichnet.

  • Joel Dicker, «Das Verschwinden der Stephanie Mailer». Piper, 2018.

Wir begegnen da im Laufe der Lektüre ungefähr 30 Menschen, und mir war es wichtig, dass sich jeder und jede im Gedächtnis des Lesers festmacht – auf seine ureigene Art.

Die tussihafte Geliebte, ein exzentrischer Literaturkritiker: Einige Figuren sind sehr klischeehaft gezeichnet sind. Mit Absicht?

Auch der Joël, der da sitzt und schreibt, hat eben gelegentlich das Bedürfnis zu lachen. Deshalb entwarf ich diesen Ostrowski – zugegeben, sehr überzeichnet.

Es gab Momente, in denen der erfolgreiche Autor in mir zur Vorsicht warnte, weil er schon die negative Kritik der Rezensenten vorausahnte.

Es ist mir schon mehrfach passiert, dass ich in eine Sackgasse geriet.

Aber in dieser Sache bekam der schreibende Joël Überhand. Denn der soll seiner spontanen Fabulierlust folgen dürfen – und sich nicht einschränken lassen durch die Befürchtungen des anderen Joël, der lieber keine zu grossen Risiken eingeht.

Man staunt beim Lesen über Ihre schier grenzenlose Phantasie. Besteht nie die Gefahr, dass Sie sich in der Geschichte verlieren?

Sie haben recht: Man kann leicht vom Weg abkommen. Es ist mir schon mehrfach passiert, dass ich in eine Sackgasse geriet und die Weichen anders stellen musste. Bei meinem jüngsten Roman habe ich sehr viel umgeschrieben.

Offenbar sollte dieser neue Roman zuerst in Genf spielen ?

Ja. Der erfolgreiche Joël fand, es wäre endlich an der Zeit, den Schauplatz in die Schweiz zu verlagern. Also machte sich der andere Joël an die Arbeit.

Die Fakten lähmen die Kreativität.

Aber ich realisierte sehr bald, wie schwierig es ist, über eine Stadt zu schreiben die man so gut kennt. Ich konnte nicht einfach ein Kapitel beginnen mit dem Satz: «Der Schnee lag 30 Zentimeter hoch auf den Trottoirs.»

In den 33 Jahren, da ich in dieser Stadt lebe, hat es noch nie so viel Schnee in einem Winter gegeben. Und schon bin ich beim Schreiben blockiert. Denn die Fakten lähmen die Kreativität.

Deshalb kehrte ich doch wieder in die USA zurück. Dort kenne ich mich auch gut aus. Aber ich habe doch noch die nötige Distanz, um es beliebig schneien zu lassen – egal ob der Schnee tatsächlich gefallen ist oder nicht.

Das Gespräch führte Luzia Stettler.

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