SRF: Bernadette Calonego, Ihr Krimi «Die Fremde auf dem Eis» handelt von der nördlichsten Eisstrasse der Welt, die 200 Kilometer lang ist und die beiden Inuit-Dörfer Inuvik und Tuktoyaktuk verbindet. Sie waren dort. Wie muss man sich diese Eisstrasse vorstellen?
Bernadette Calonego: Man sieht eine unendliche Weite. Die Eisstrasse führt über das vereiste Delta des Mackenzie-Stroms, dem grössten Strom in Kanada. Das Delta scheint endlos. Im Winter gefriert dieses Mündungsgebiet.
Dann wird eine Piste freigemacht, auf der Autos und Lastwagen von Inuvik nach Tuktoyaktuk fahren können. Das Eis ist dann zwischen zwei und vier Meter dick.
Täglich werden Bohrungen gemacht, um zu sehen, ob die Piste stabil genug ist. Pflugmaschinen halten sie frei und Grader rauen die Eisoberfläche auf, dass mehr Reibung entsteht und die Pneus der Lastwagen und Autos auf dem Eis mehr Griff haben.
Ist das Befahren einer solchen Eisstrasse nicht dennoch gefährlich?
Das ist sie. Sie war auch mal Drehort der Fernsehserie «Ice Road Truckers» . Sie zeigt das Leben der Lastwagenfahrer, die solche Eisstrassen befahren. Während den Dreharbeiten ist immer mal wieder einer der Trucks im Eis eingebrochen.
Denn wenn ein Lastwagen schneller als die erlaubten 50 km/h fährt, dann läuft er Gefahr, dass es unter dem Eis Wellen gibt, die an die Eisunterfläche prallen. Das kann dazu führen, dass das Eis Risse bekommt oder sich eine grosse Spalte öffnet.
Als ich dort war, habe ich immer wieder leerstehende Autos gesehen, die in Schneewehen oder im Eis eingebrochen waren und nicht abgeschleppt wurden.
Im Winter wird es bis zu minus 50 Grad Celsius. Macht das die Eisstrasse zusätzlich gefährlich, weil man bei einer Panne auch schnell erfrieren kann?
Das kann durchaus sein. Ich war Ende April dort und da war es Minus 20 Grad Celsius. Wenn ich fotografieren wollte und die Handschuhe ausgezogen habe dazu, waren meine Finger innerhalb von Sekunden taub. Man muss sich also gut schützen.
Wenn Touristen in die Arktis reisen, dann sind sie sich oft nicht bewusst, wie schnell man eigentlich umkommen kann, wenn man etwas falsch macht. Und darum ist es wichtig, dass man die Ratschläge der Einheimischen befolgt.
Trotz dieser Unwirtlichkeit, spürt man aus Ihrem Buch heraus, dass Sie diese Region lieben.
Ich war schon immer von der Arktis fasziniert, weil sie spärlich besiedelt ist und noch riesige Flächen unberührt sind. Auch das Unmittelbare liebe ich, die Freiheit, die Weite, die Menschen dort, die in einer solch unwirtlichen Gegend überleben können.
Darüber hinaus habe ich einen Beschützerinstinkt entwickelt, weil die Arktis vom Klimawandel und von den Machtinteressen gewisser Akteure bedroht ist. Lasst bitte diese Region in Ruhe!
Hier kann man durchaus ein modernes Leben führen. Aber kein einfaches.
Sie leben in Vancouver, schreiben von dort aus. Könnten Sie eigentlich auch in Inuvik arbeiten?
Das könnte ich. Sie bringen mich da auf eine gute Idee. Es gibt Internetanschlüsse, man kann da durchaus ein modernes Leben führen. Aber kein einfaches. Im Winter ist es furchtbar kalt, man kann oft nicht nach draussen gehen, es ist Monate lang dunkel und im Sommer hat es unendlich viele Mücken.
Auch frisches Gemüse und frische Früchte gibt es in Inuvik selten. Aber warum nicht, zwei drei Monate im Frühjahr, das würde schon passen.
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Was für Menschen leben in Inuvik?
Inuvik ist ein 3'500-Seelen Dorf mit funktionalen, zum Teil bunten Holzhäusern und einem Gewirr aus überirdischen Leitungen und Rohren wegen dem Permafrost-Boden. Die Menschen, die dort leben, sind ein spannender Mix.
Es gibt da die Inuvialuit, das sind die Ureinwohner, die die Mehrheit in Inuvik bilden. Dann gibt es die Gwich’in-Indianer, viele Weisse und rund 100 Muslime, die sogar eine Moschee haben. Sie alle leben friedlich zusammen, treffen und helfen sich, feiern zusammen uralte Traditionen wie etwa das Frühlingsfestival.
Dass das an einem so isolierten Ort möglich ist, ist beeindruckend. Vermutlich funktioniert das, weil alle aufeinander angewiesen sind. Das gibt einen Kitt, der alle zusammenhält.
Was war für Sie ein Highlight auf der Arktis-Reise?
Das war für mich das «Muskrat Jamboree». Das ist das Frühlingsfestival der Inuvialuit, an dem man sich zu Tanz und Gesang und zu verschiedenen Wettbewerben trifft.
Es gibt ein Schneemobil- und ein Hundeschlittenrennen und verschiedene Geschicklichkeitsspiele: wer am schnellsten auf dem offenen Feuer Wasser kochen kann oder wer am schnellsten eine Bisam-Ratte häuten kann. Wie die Leute an diesem Fest zusammenkommen, ihre Existenz feiern und dazu die Touristen willkommen heissen, das hat mich beeindruckt.
Das Gespräch führte Annette König.