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Kurzgeschichten über Verluste Mut zur Lücke

Verbrannt, verschollen, ausgestorben: In Judith Schalanskys Buch sind Verluste gut aufgehoben. Ein fantastisches Werk.

Zugegeben: «Verzeichnis einiger Verluste» klingt elend bürokratisch. Der graue Buchdeckel, der an einen Leitz-Ordner erinnert, lässt Staubtrockenes befürchten.

Buchhinweis

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Judith Schalansky: «Verzeichnis einiger Verluste», 2018,

Suhrkamp.

Doch genau mit diesem Understatement spielt die ausgebildete Typografin und Buchgestalterin Judith Schalansky listig. Denn wer das Buch erst einmal in der Hand hat, merkt, dass da mehr daran ist.

Die Buchdeckel sind ein haptisches Abenteuer. Das Recycling-Papier besteht zu 30 Prozent aus Lederresten, so dass die Buchdeckel sich als heimliche Handschmeichler entpuppen.

Wunderkammer der Verluste

Beim Lesen der zwölf Verlustbeschreibungen kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Denn die Autorin Schalansky tappt nicht in die Falle der Larmoyanz und der Klage über ein verbranntes Gemälde von Caspar David Friedrich, den ausgestorbenen kaspischen Tiger oder den verschollenen ersten Stummfilm von Wilhelm Murnau.

Sie nutzt die Wunderkammern der Verluste, um Neues entstehen zu lassen. Sie füllt die Leerstellen, indem sie Faktisches und Fabuliertes kühn miteinander verwebt. «Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden», hält Schalansky im Vorwort ihres neuen Buches fest.

Exzellentes Nature Writing

Zwischen 1810 und 1820 hat Caspar David Friedrich den Hafen seiner Geburtsstadt Greifswald gemalt. Bei einem Brand wurde das Bild 1931 zerstört.

Diesen Verlust verwandelt Schalansky in eine fantastische Landschaftsbeschreibung, indem sie eine naturkundlich ausgebildete Ich-Erzählerin mit einer Karte durch die Moorlandschaft hinter Greifswald herumwandern lässt.

Die Erzählerin beobachtet, wie die Mehlschwalben geschäftig übers Wasser lavieren. Sie bestaunt die zerknitterten Blätter der Kastanie und hört den rhythmischen Loop des Gimpels. Das ist exzellentes Nature Writing.

Verschollenes stimuliert die Imagination

«Der Knabe in Blau», den verschollenen ersten Stummfilm von Wilhelm Murnau, nutzt Schalansky, um die Schauspielerin Greta Garbo 1952 frustriert und zeternd durch Manhattan ziehen zu lassen.

Diese Wanderung des einstigen Stummfilmstars ist von hinreissend komischer Tragik. Den ausgestorbenen kaspischen Tiger verwendet die Schriftstellerin, um einen schauerlich blutigen Gladiatorenkampf zwischen einem Löwen und Tiger zu entwerfen.

Schalansky hat ein Gespür für Verluste. Sie beweist, dass Verlorenes anregt, Verschollenes die Imagination stimuliert und Verbranntes ein sprachliches Feuerwerk entzündet.

Ein vielstimmiges Verzeichnis

Die zwölf Verlustgeschichten sind alle 16 Seiten lang. Doch weil Judith Schalansky für jeden Verlust sprachlich einen eigenen Tonfall, eine neue Erzählperspektive und ein anders Genre findet, entfaltet dieses Verzeichnis einen betörenden Zauber. Es ist ein vielstimmiges Verzeichnis mit einer durchaus melancholischen Grundfärbung.

Die Kapitel sind mit grau-schwarz durchgefärbten Seiten getrennt. Auf diese nahezu nachtschwarzen Seiten sind die verschollenen Gegenstände gedruckt.

So erscheinen die Bilder, Tiger und Filme als Hauch einer Erinnerung auf. Inhalt und Gestaltung verbindet Schalansky zu einer wundersamen Einheit.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 04.02.2019, 17.10 Uhr

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