Im ersten Band von Sibylle Bergs Roman-Trilogie, «GRM. Brainfuck» (2019), rebellieren fünf verwahrloste Jugendliche gegen eine Welt, in der Algorithmen alles kontrollieren. Da ist Wut, Hass und Gewalt. Der Sound in dem Berg schreibt, ist punkig und brutal.
Im zweiten Teil setzt Berg diese Geschichte fort. Kalt und technokratisch. Aus den fünf Jugendlichen sind erwachsene Hackerinnen und Hacker geworden. Wiedervereint wollen sie den Finanz-Eliten mit «Remote Code Executions» (deutsch: ferngesteuerte Code-Ausführungen) den Stecker ziehen. Darum der Titel «RCE» (2022).
Im dritten Teil «PNR: La Bella Vita» (2025) verändert sich nun der Ton: Der Umsturz hat friedlich stattgefunden. Das weltweite Finanzsystem ist deaktiviert. Eliten sind Geschichte, niemand muss mehr arbeiten. Das World Wide Web wird nicht mehr zur Kontrolle genutzt, sondern zur Selbstorganisation. Statt Überwachung und Profitlogik: Dolce far niente. Das klingt fast nach Ferien.
«Ein wenig anarchistische Energie, ein guter Plan, und fast über Nacht war das alternativlose System verschwunden. Implodiert, in die Knie gegangen, eingesackt und Ciao! So einfach ist das, wenn sich Menschen dafür entscheiden, das System nicht neu zu erschaffen, am Laufen zu halten, mit jedem Tag, mit ihrem Leben, ihrer Arbeit, die sie nicht mehr für sich erledigt hatten, sondern für irgendwen, um Lebensersatzstücke erwerben zu können mit dem Verkauf ihres Lebens. Nun musste etwas Neues her. Viel Spass!»
Hackerin schreibt Verfassung
Die Erzählerin ist Donatella, eine der fünf Hackerinnen, die den Systemwechsel herbeigeführt haben. Sie ist Mitte 20 und lebt in Rom. Als Archivarin des neuen Systems reist sie durch Italien und spricht mit den Menschen über das Leben nach dem Kapitalismus. Ihre Beobachtungen, Eindrücke und Gedanken zeichnet sie auf.
Ihre Notizen lesen sich wie ein sehr persönlich gehaltener Verfassungsentwurf in 93 Paragrafen. In Paragraf 3 etwa denkt Donatella über das Recht auf günstigen Wohnraum nach. Sie selbst lebt für einen symbolischen Minimalbetrag in einem historischen Nationalgebäude – dem Monumento Vittorio Emanuele II. Donatella musste sich dafür nur auf eine Warteliste setzen lassen.
Utopie mit Fragezeichen
Sibylle Berg schreibt angriffig, setzt pechschwarze Pointen. Sie lädt ihren Text mit viel Hintergrundwissen auf. Doch was ungewohnt ist: In «PNR: La Bella Vita» schlägt sie einen optimistischeren Ton an. Vielleicht hat damit auch Bergs politisches Engagement zu tun. Die Schriftstellerin hat sich 2024 als Abgeordnete der deutschen Satire-Partei «Die Partei» ins Europa-Parlament wählen lassen.
Doch überzeugt Sibylle Bergs neuer Roman wirklich? Erst spät. Über 300 Seiten lang wirkt die Utopie wie ein Sozialismus-Manifest. Grundeinkommen, Dreieinhalb-Tage-Woche, keine Herrschaft, nur geteilte Verantwortung.
Aber dann passiert etwas und am Ende gewinnt das Buch an Tiefe. Nach einem einschneidenden Erlebnis denkt Bergs Protagonistin Donatella über Endlichkeit, Liebe und Gemeinschaft nach. Und die entscheidende Frage stellt sich beim Lesen: Was treibt uns an, wenn alles geregelt ist? Wenn es keine Konflikte, keine unterschiedlichen Meinungen mehr gibt? Was wäre dann der Sinn des Lebens? Hier tritt Bergs Utopie endlich aus der Theorie ins Leben.