Wenn jemand in Deutschland in aller Öffentlichkeit stark «sächselt», dann ist er entweder Kabarettist und macht dies zur Unterhaltung. Oder er läuft Gefahr, für seine Sprache verlacht zu werden. Der sächsische Dialekt hat einen schweren Stand. Kaum zu glauben, dass Sächsisch im gesamten deutschen Sprachraum während rund 250 Jahren – vom frühen 16. Jahrhundert bis zum späten 18. Jahrhundert – der Vorzeigedialekt schlechthin war.
Die Anmut des Sächsischen
Die typischen schwachen Konsonanten («De Weechn besiichn de Hardn» – die Weichen besiegen die Harten) galten als anmutig, ganz besonders bei Frauen: Die «holdseligen Sächsinnen» wurden zum Mythos. Das angehängte /e/ wie in «Bette» oder «stille» wurde vornehm «e-Saxonicum» genannt, das «sächsische /e/».
Schweizer Gelehrte wie Johann Jakob Bodmer ersuchten beim in Leipzig lebenden Schrifsteller Johann Christoph Gottsched um die Korrektur ihrer Manuskripte. Das Meissner Gebiet im Städtedreieck Leipzig, Chemnitz, Dresden war eines der grossen kulturellen und politischen Zentren Deutschlands.
Sächsisch, das «schlechte Hochdeutsch»
Doch plötzlich kippte die Wertschätzung in Geringschätzung. Dieselben Schweizer, die sich einst in Leipzig Rat holten, wehrten sich auf einmal gegen die dominante Rolle des Sächsischen. Auch Goethe schimpfte: «Mit welchem Eigensinn die meissnische Mundart die übrigen zu beherrschen, ja eine Zeit lang auszuschliessen gewusst hat, ist Jedermann bekannt. Wir haben viele Jahre unter diesem pedantischen Regimente gelitten.»
Was vorher geschätzt wurde, galt jetzt als hässlich: Die weichen Konsonanten wurden zum Sinnbild von verweichlichten und dümmlichen Charakteren, das an Substantive angehängte sächsische /e/ wurde mit den «Mäh»-Rufen von Schafen verglichen. Sächsisch galt nicht mehr als Dialekt, sondern als schlechtes Hochdeutsch.
Sächsisch wird vermieden
Und so ist es bis heute geblieben. Der schlechte Ruf ihres Dialekts hindert viele Sachsen daran, ihren Dialekt zu gebrauchen. In den Städten sowieso und seit langem – zusehends aber auch auf dem Land.
Zwar identifizieren sich die Sachsen durchaus mit ihrem Dialekt, wie Gunter Bergmann, Herausgeber des Sächsischen Volkswörterbuchs, sagt. Auch sind die Kabaretts in den Städten, wo Entertainer auf Sächsisch unterhalten, gut besucht. Aber gesprochen wird der Dialekt kaum mehr. Wenn, dann als überregionaler Ausgleichsdialekt mit gewissen lautlichen Eigenheiten. Der sogenannt «tiefe» Dialekt, in dem auf kleinsten Räumen grosse lautliche und lexikalische Unterschiede herrschten, ist schon seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert grösstenteils zugunsten von grossräumigen Verkehrssprachen aufgegeben worden.
Dialektparadies Schweiz
Der Unterschied zur Situation in der Schweiz könnte also nicht grösser sein: In Leipzig ist Sächsisch ein seit 200 Jahren verfemter, verlachter Dialekt, mit dem jeder ungestraft den Hanswurst spielen darf. In der Deutschschweiz dagegen besteht eine selbstverständliche Dialektvielfalt, mit welcher der gesamte Alltag bestritten wird.
Natürlich verändern sich auch die alemannischen Dialekte in der Schweiz rasant. Der grosse Unterschied besteht aber darin, dass Dialektsprechen in der Schweiz kein Signal ist für mangelnde Bildung und tiefen sozialen Status, wie das in weiten Teilen Deutschlands noch immer der Fall ist.
Die Schweizer «Kantonsdialekte» haben sehr verschiedene Beliebtheitsgrade: Berndeutsch ist beliebt, Thurgauerdeutsch ist unbeliebt. Aber erstens ist diese Skala nur ein grober Stimmungsbarometer, der je nach Region verschieden aussieht. Zweitens ist der Beliebtheitsgrad nur in schwachem Masse auch ein Indiz für Auf- beziehungsweise Abwertung der Sprecher eines Dialekts. Paradiesische Dialektzustände in der Schweiz also. Der Karriereverlauf des Sächsischen allerdings zeigt, dass sich die Bewertung von Dialekten rasch ändern kann.