Sehr verehrter Vladimir Nabokov,
neulich besuchte ich Ihr Grab in Montreux, es regnete und die Stimmung war triste. Danach ging ich ins Hotel Montreux Palace, wo Sie zusammen mit ihrer Frau Vera die letzten Jahre verbrachten. Meine Verehrung liess mich in den 6. Stock hochsteigen: Ich fand, um es gerade heraus zu sagen, nichts, das mich in irgendeiner Weise an Sie erinnert hätte, und auch die Statue im Garten des Hotels, schwarzes, plumpes Metall, hat mich deprimiert. Das ist der Grund, weswegen ich Ihnen schreibe: Mögen Sie dem einen oder anderen der Banausen, die heute die Welt bevölkern, wieder lebendiger werden!
Man braucht nur eines Ihrer Bücher aufzuschlagen, und schon vernimmt man Ihre unverwechselbare Stimme. Ein Beispiel? «Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li.Ta.»
Ich kenne keinen besseren Romananfang. Und eigentlich auch keinen besseren Roman, weswegen ich ihn immer wieder lese. Bestimmt schon über fünfzig Mal. Freilich muss ich Sie und mich vom Verdacht befreien, Anhänger jener perversen Art Zuneigung zwischen alten Männern und sogenannten Nymphchen zu sein, die man mit dem Krankheitsbegriff «Pädophilie» bezeichnet. Nein, «Lolita» ist für mich zuerst ein grossartiger Roman über die Krankheit Amerikas, über die Paranoia. Wie der «köstliche» «Pnin» nicht nur eine Abrechnung mit dem Campusmilieu, sondern auch ein satirisches Portrait des Autors als alter Mann darstellt. Köstlich? Ja, denn man muss den Roman wie eine Biene lesen, die einen Honigstock umkreist und sich daran labt. Ihre Sätze sind kleine Weltumsegelungen, in denen, zwischen zwei Punkten, ein Kosmos an Farben, Ironien und Idiosynkrasien versammelt sind, Landschaften voll wechselnden Lichts mit schrecklich düsteren Motels an einsamen Landstrassen, Boudoirs in allen Schattierungen des Lasters, und Geflüster voller abgründiger Anspielungen auf heiteren Partys, sodass man am liebsten nach jedem Komma sein Zelt aufschlagen und länger verweilen würde. Dass die Miete in Ihren wunderbaren Sätzen nicht mehr als den Preis eines Buches beträgt, gehört zu den Glücksfällen meines Lebens.
Ihr Martin R. Dean