Liebe Anna Mitgutsch
nicht der erste Brief, den ich an Sie schreibe. Aber schreiben. Weiterreden. Wie eine Begegnung. Kurz nur, eine Fahrt im Zug, Zeit, die vorüberfliegt, weiss verschneite Landschaft draussen. Flüchtig. Immer nur flüchtig.
Auf Verlust hin. «Das Leben ist die Einübung in den Verlust.» Das steht in einem Ihrer Bücher. Verlust und Abschied. Das kehrt wieder. Auch bei mir. Im Leben wie im Schreiben. Seit der Kindheit. «Kindheiten sind grausam, fast alle.» Meine war es. Ihre wohl auch. Ich denke an Vera in der «Züchtigung»: Schläge, die letzten mit vierzehn. Die bäuerliche Welt. Krankheit und Tod, immer nah.
Und selten die Liebe, und wenn, dann trennungsbedroht. «Liebe war die ewige Forderung meiner weinenden, schreienden Mutter an den gleichgültigen Vater.» Sprachen wir davon, während der Zug durch die Winterlandschaft raste, stiebende Schneefahnen aufwirbelte, fern ein einsames Gehöft, von dem Rauch aufstieg?
Sind die Erinnerungen solcher Kindheiten eingeprägt und kehren wieder als Sehnsucht? «Alle litten an dieser unstillbaren Sehnsucht nach etwas, was nicht sein konnte.» Wächst das Schreiben aus dem, dem Kinde verwehrten Wunsch, einfach geliebt zu werden, angenommen zu sein? Und nicht: die Liebe abtragen zu müssen als Schuld.
Amo, volo ut sis – ich liebe Dich, ich möchte, dass Du ganz Du sein kannst, liebe Dich, weil es Dich gibt. Der Satz wird in einem meiner Bücher zitiert. Heidegger hat ihn Hannah Arendt geschrieben. Das wäre die Liebe, die als Geschenk da ist. Wer sie nie erfuhr, ob als Kind oder später, dem bleibt ein Mangel, dem fehlt etwas. Ist es dieser Mangel, und der an Unversehrtheit, an menschlicher Bedingung in der Welt, dieses Fehlen von etwas, was uns antreibt zum Schreiben?
Die Literatur kann viel, sie kann uns unterhalten, ärgern oder auch nachdenklich stimmen. Im Lesen Ihrer Bücher finde ich das, was sie mir am liebsten macht: dass sie auch dort uns wärmen, durchglühen, vielleicht gar mit uns selbst in Einklang bringen kann, wo sie vom Bitteren, vom Versäumten, vom Verlust spricht. Darin ist sie auch tröstlich und führt aus der Zeit und Endlichkeit in jenes Aufgehobensein, welches das Kind, das ich war, sich gewünscht hätte.
Und es ist auch das, was immer neu zum Schreiben drängt: den Mangel, die Sehnsucht einzulösen im Text. Da wärmt das Wort. Für einen Augenblick wenigstens. Fröstelnd sind wir durch den hohen Schnee gegangen, der Fluss dampfte in der Kälte, selbst das eingehüllte Münster schauderte in der Winternacht. Doch wird man, aufgehoben im Wort, leicht.
Der Abschied. Von Bern. Von Jerusalem. Aber nie von den Worten, den gestammelten oder geschriebenen. Tröstlich. So sehr, dass der Stift schon wieder schreibt. Auch wenn der Zug pünktlich ist. Die Freundschaft, die Liebe, sagt Epikur, tanzt einen Reigen um die Welt und heisst uns aufwachen zur Seligkeit. Die ist da, wenn der Stift hüpft und kratzt.
Ich grüsse Sie
Ihr Urs Faes