Ihre Romane «Mrs. Dalloway» oder «Zum Leuchthaus» und auch der Essay «Ein Zimmer für sich allein» gehören bis heute zu zentralen Werken der Literatur. Virginia Woolfs Sprache fliesst poetisch, doch verliert nie den Bezug zur Geschichte. Dass sie auch ganz anders schrieb, zeigt der neuentdeckte Text «The Life of Violet».
Geschrieben hat ihn Woolf mit nur 25 Jahren – beinahe ein Jahrzehnt vor der Veröffentlichung ihres ersten Romans. Vergessen in einer Schublade von Woolfs Freundin und Mentorin, ist das Manuskript jetzt wieder aufgetaucht. Über 80 Jahre nach ihrem Tod wird der Text nun publiziert.
Am Anfang stand die Freundschaft
«The Life of Violet» erzählt fiktiv das Leben von Violet Mary Dickinson – eine liebevolle Hommage an Woolfs gleichnamige Freundin, die der Autorin zu wichtigen Kontakten in der Literaturwelt verhalf. Die unverheiratete und überdurchschnittlich gross gewachsene Dickinson setzte sich spielerisch über patriarchale Strukturen hinweg. Ihr zu Ehren schreibt Woolf «The Life of Violet».
In dem Text wird Violet zu einer sympathischen Riesin stilisiert, die überall Lachen und Heiterkeit verbreitet. Ein fiktiver Biograf berichtet von Violets positivem Einfluss auf ihre Mitmenschen, von ihrem idyllischen Landhaus und von Violet als märchenhafte, magische Göttin in Tokio.
«‹I too have a fire within me.› ‹I too sing a delightful song.› and ‹My God, I can write!› such were the sparks that spurted from Duchess and kitchen maid when Violet struck them.» Eine Herzogin und eine Küchenhilfe verspüren durch Violet ein inneres Feuer, Talent und Selbstwert. Und so ähnlich dürfte auch Woolf selbst von den Begegnungen mit Violet inspiriert worden sein – für ihr Schreiben und ihr feministisches Engagement.
Woolf beweist Sinn für Humor
Urmila Seshagiri, Professorin für Literatur an der University of Tennessee und Woolf-Expertin, ist Herausgeberin des Sensationsfunds. Sie erklärt, der Text sei einzigartig, weil er unglaublich witzig sei und sich einer magischen Sprache bediene, die sich später in Woolfs Texten nicht mehr finde.
Was sich hingegen wieder findet, sind die feministischen Anliegen. Am deutlichsten ausformuliert stehen sie im Essay «Ein Zimmer für sich allein» von 1929. Dort schreibt Woolf den einflussreichen Satz: «Eine Frau braucht Geld und ein Zimmer für sich allein, wenn sie schreiben will».
Wie sich nun aber zeigt, ist diese Idee schon in «The Life of Violet» angelegt, das über 20 Jahre vor dem Essay geschrieben wurde. Schon dort ist nämlich die Rede von einem Landhaus für sich allein. Zurecht lässt sich vermuten, dass bereits die junge Virginia Woolf genau wusste, wo Kritik angezeigt war.
Ein Zufallsfund
Professorin Urmila Seshagiri ist rein zufällig über das unbekannte Manuskript gestolpert. Bis anhin kannte die Forschung nur eine erste Version dieses Textes – und ging daher davon aus, dass es reine Übung für Woolf gewesen war.
Aber der Fund erzählt eine andere Geschichte. Woolf hatte ihren ersten Entwurf präzise überarbeitet und professionell abtippen lassen. Seshagiri zeigt sich erstaunt, dass Woolf die Erzählung so ernst genommen hatte – und dass bisher niemand davon wusste.
«The Life of Violet» ist eine Einladung an alle, die Schriftstellerin Virginia Woolf in einem neuen Licht wiederzuentdecken oder sie als humorvolle, scharfsinnige Autorin kennenzulernen.