«Wie: Ende?» Die Nachricht kommt per Handy – und Renate Meissner versteht sie nicht, überhaupt nicht. Der Vorstand hat einen Beschluss gefasst, die Abteilung wird aufgelöst. Die Frau am Ende der Leitung ist am Ende, plötzlich, genau in diesem Moment: Renate Meissner ist 42 und draussen.
Die Managerin einer grossen Münchener Versicherung ist die Hauptfigur in Thomas von Steinaeckers Angestellten-Roman «Das Jahr, in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen». Die neue stellvertretende Abteilungsleiterin des Konzerns hat sich eingerichtet in ihrem gestylten Büro aus Glas, mit ihrer Gier nach Plan, auf dem steten Weg nach oben.
Das Risiko ist kalkulierbar. Schadensfälle sind es ebenso, Katastrophen können eingerechnet werden. Das Unvorhergesehene hat keinen Platz, die Wechselfälle des Lebens, ein privates Schicksal gar, erst recht nicht. So ist die Arbeitswelt angelegt, im «HighLight-Tower» der Cavere Versicherung. Es ist ein todschickes Büroleben an der Frontlinie der digitalisierten Gegenwart: «Im Sommer waren wir am Ende von Modul 1. Jetzt sind wir am Anfang von Modul 2. Wobei es aber eigentlich gar keinen Unterschied gibt.»
Die Aussenwelt ist die Innenwelt
Das Leben ist riskant, aber das darf es nicht sein. Platz für Risiken ist nur in den Versicherungspolicen, die die Managerin virtuos an ihre Kunden bringt. Renate Meissner ist dabei vor allem eins: eine Virtuosin des Selbstmanagements, ein sehr kluger Professional in der Arbeit am Ich. Jeden Abend schreibt sie eine E-Mail an sich selbst, mit Noten von 1-10 für die Tagesperformance. Renate Meissner ist buchstäblich, was sie darstellen will. Die Aussenwelt ist die Innenwelt, das ist der Kniff in Steinaeckers Roman.
Das geht nicht ohne Rest, ohne die letzten Reibungsverluste zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Der Roman zeigt auch die Anstrengung, die der Kontrollwahn kostet und er belegt sie semi-dokumentarisch. Performancetabellen und Psychopharmaka-Listen: Alles wird ausgedruckt.
Ein Ich-Roman ohne Ich
«Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen …» ist ein Ich-Roman ohne Ich. Alles wird mit den Augen der Hauptfigur gesehen, aber die wirkt wie zusammengesetzt aus all den schönen Vokabeln der Selbstverbesserung: Ein vertrauter Slang aus Coaching-Seminaren, Controlling und Motivations-Mantras.
Der Roman spielt Ende 2008, dem Jahr der Finanzkrise. Der Lehman-Brothers-Bankrott stellt den historischen Hintergrund. Auch Cavere hat sich verspekuliert. Der Vorstand fasst seinen Beschluss – und für Renate Meissner beginnt eine andere Geschichte. Thomas von Steinaecker hat einen Roman zwischen Realismus und Märchen geschrieben. Eine moderne «Education sentimentale». 2012 war er damit für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.