Linus Reichlin beginnt seinen neuen Roman «In einem anderen Leben» mit einem Satz, der aufhorchen lässt: « Manche Menschen verbringen ein Leben damit, ihre Eltern kennenzulernen.»
Reichlins These: Im besten Fall muss man sich als Kind nicht speziell mit den Eltern auseinandersetzen. Sie sind einfach da und geben einem Sicherheit und Geborgenheit. Im schlechteren Fall wird man zu einer Auseinandersetzung gezwungen. Mit einer solchen Auseinandersetzung wird Luis, die Hauptfigur in Reichlins Roman, konfrontiert.
Ewig Krach zuhause
Luis wächst in den 1970er-Jahren in einer kleinen Stadt im Schweizer Mittelland auf. Der Vater ist ein Deutschschweizer Zahnarzt, die Mutter Tessinerin. Die Eltern sehen sich gern als glamouröses Paar im Stil von Elizabeth Taylor und Richard Burton.
Aber glücklich ist ihre Ehe nicht. Bei jedem Streit fliegen die Fetzen – genau wie beim Schauspielerpaar. Das Familienleben ist trostlos. Der Vater wird je länger je mehr zum Säufer. Die Mutter ist frustriert und unglücklich. Als sie bei einem Ausflug in die Berge alkoholisiert einen Unfall verursacht und einen schweren Schlaganfall erleidet, ist das Familienleben komplett zerstört.
Sendungen zum Thema
- Aller Anfang ist schwer (Kulturplatz, 15.5.2013)
- Literatur im Gespräch (Reflexe, 27.3.2013)
- Sehnsuchtsort für Männerphantasien? (Buchzeichen, 24.3.2013)
- Wenig Wagemut am Bachmann-Wettlesen (DRS2 aktuell, 9.7.2011)
- «Der Assistent der Sterne» (Reflexe, 18.2.2010)
- Linus Reichlin holt Deutschen Krimipreis (Kulturtipp, 21.1.2009)
«In einem anderen Leben» erzählt eindrücklich und schonungslos, wie ein junger Mann seiner Familiengeschichte zu entfliehen versucht. Traumatisiert von seiner Kindheit will Luis alles anders, besser, machen als seine Eltern. Aber er muss einsehen: die Erkenntnis allein reicht nicht. Er muss bereit sein, etwas für die Veränderung zu tun. Und selbst dann bleibt das eigene Lebensglück unsicher.
Die Sehnsucht auszubrechen
Reichlin gelingt es, mit Luis eine glaubwürdige Figur zu schaffen, mit der sich die Leserschaft identifizieren kann. Gut, hat Reichlin nicht einfach seine eigene Geschichte niedergeschrieben, sondern sie soweit abstrahiert, dass mancher Leser, manche Leserin, offene Fragen oder Fragmente aus dem eigenen Leben erkennen kann.
Gleichzeitig bietet der Roman auch die Möglichkeit, in der Nostalgie der 1970er-Jahre zu schwelgen – eine willkommene Gelegenheit, während des Lesens durchzuatmen.
Denn in jeder Zeile schwingt die zentrale Frage mit, die Reichlin seiner Leserschaft gleich zu Beginn stellt: «Kennen Sie die Sehnsucht danach, aus Ihrer Familiengeschichte auszubrechen und es völlig anders zu machen?» Die Antwort bleibt jedem Leser, jeder Leserin selbst überlassen.