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Gegenlichtaufnahme: Ein Wachtturm über einem Bretterzaun ragt in einen leicht bewölkten Himmel.
Legende: Fluchtversuch sinnlos: Ein Wachtturm des Gulags nördlich der sibirischen Stadt Perm – heute ein Museum. Keystone

Literatur Als Ärztin in Stalins Hölle

Die grossen Gulag-Autoren Alexander Solschenizyn, Warlam Schalamow und Jewgenija Ginsburg bekommen Gesellschaft: Die österreichisch-sowjetische Autorin Angela Rohr beschreibt in ihrem autobiographischen Roman «Lager» den Alltag in den sowjetischen Straflagern zur Zeit Stalins. Erschütternd.

«In dieser Nacht starben mir elf Männer, die man dann am Morgen abholte. Es waren Junge und Bejahrte, deren Namen ich nicht kannte, deren Todesursache ich nicht feststellen konnte, nur eines war mir klar, dass sie an dem Regime gestorben waren.»

Angela Rohr beschreibt in ihrem autobiographischen Roman «Lager» mit gnadenloser Präzision, wie sie den stalinistischen Gulag erlebte, in dem sie ab 1941 während Jahren selbst einsass. Sie musste dort als Ärztin arbeiten. Sie betrieb Lazarette, in denen es keine Medikamente gab. Nicht einmal Seife.

Dafür war der Hunger allgegenwärtig. Die Menschen kauten Teer, um den Mund zu beschäftigen. Flucht war unmöglich. Die Abgelegenheit der Lager, die raue Natur der Taiga, Minustemperaturen bis 40 Grad machten jeden Gedanken daran sinnlos.

Immerhin: Angela Rohr vermochte gelegentlich das Los ihrer Mithäftlinge etwas zu mildern. Sie schrieb sie krank. «Ich konnte eben als Mensch und Arzt nicht anders handeln.»

Altes Schwarzweissfoto: Eine junge Frau in einem dicken Pelzmantel.
Legende: Gnadenlose Präzision: Angela Rohr 1927 vor einer Forschungsreise nach Sibirien. Privatarchiv Hans Marte, Wien

Die Ärztin, die keine war

Dabei hatte sie nie Medizin studiert. Sie verfügte lediglich über medizinisches Teilwissen, das sie sich zum grössten Teil autodidaktisch angeeignet hatte. Es genügte aber, um sich als Ärztin auszugeben. Und sie blieb von der Schwerstarbeit in den sibirischen Wäldern und auf Baustellen verschont. Dies rettete ihr wohl das Leben.

Den Roman schrieb Angela Rohr in den 1960er-Jahren in Moskau. Dort hatte sie vor ihrer Deportation nach Sibirien gelebt. Und dorthin kehrte sie zurück, als die qualvollen 16 Jahre Haft und Verbannung zu Ende waren.

Vergeblich bemühte sie sich im Sowjetstaat nun um eine Veröffentlichung ihrer erschütternden Aufarbeitung des Gulags. Eine erste Edition erfolgte erst nach ihrem Tod 1985 – in Wien. Allerdings war diese Ausgabe fehlerhaft. Nun liegt in der Ausgabe des Aufbau-Verlags der einzigartige Text in einer wissenschaftlich verlässlichen Form vor.

Die Bohémienne

Angela Rohrs Leben vor dem Gulag war äusserst bewegt. Geboren wurde sie 1890 im damaligen Österreich-Ungarn. Als junge Erwachsene führte sie das Leben einer Bohémienne: Studien in Paris, Mitglied der Dada-Szene in Zürich, Freundschaft mit Rainer Maria Rilke, Studium in Berlin, Psychoanalyse, Pharmakologie und Toxikologie, erste Versuche als Schriftstellerin.

Buchhinweis

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Angela Rohr: «Lager». Aufbau Verlag, 2015.

Sie legte sich diverse Künstlernamen zu, war insgesamt dreimal verheiratet. Ihrem dritten Ehemann Wilhelm Rohr folgte sie 1925 nach Moskau und wurde sowjetische Staatsbürgerin. Sie schrieb als Russland-Korrespondentin Reportagen und Feuilleton-Artikel für verschiedene deutschsprachige Titel. Auch für die Neue Zürcher Zeitung.

1941 überfiel Hitler die Sowjetunion, und Angela Rohr wurde verhaftet. Das Regime erhob gegen «die Deutsche» den Vorwurf der Sabotage. Ohne Faktengrundlage. Das «sozialgefährliche Element» wanderte für fünf Jahre in verschiedene Lager in Westsibirien. Als die Haftzeit ablief, belegte man Rohr mit der «ewigen Verbannung».

Erst 1957, im Zuge der Entstalinisierung, wurde sie rehabilitiert. Mit ein paar lapidaren Sätzen anerkannte das Regime, dass im Fall Angela Rohr «falsche Beschuldigungen» bestanden hätten.

Literarisches Mahnmal

Und ist Angela Rohrs Roman nun Literatur? Oder ist es lediglich ein eindringliches Zeitzeugnis, eine Mahnung an die Nachgeborenen? Sicher ist: Angela Rohr kann erzählen. Sie tut dies zwar anders als etwa Solschenizyn oder Schalamow. Weniger Dramatisierung. Weniger persönliche Betroffenheit. Dafür mehr Distanz und Nüchternheit in der Sprache.

Zudem ist der Roman kein blosses Abrufen der Erinnerung. Vielmehr arrangiert und strukturiert sie äusserst gekonnt den Erzählfluss, bricht ihn immer wieder mit feiner Ironie und subtilen Reflexionen. Sicher ist «Lager» ein Zeitdokument, aber nicht nur, sondern eines, das literarisch dicht gestaltet ist und damit weit über die Zeit seines Entstehens hinaus reicht.

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