Annemarie Schwarzenbach ist bis heute eine einzigartige Gestalt in der Schweizer Literatur. Sie wurde 1908 geboren, als Tochter einer reichen und einflussreichen Familie, die hoch über dem Zürichsee residierte. So war Annemarie von Kindesbeinen an mitten im turbulenten Weltgeschehen. Ihr Grossvater, Ulrich Wille, befehligte als General die Schweizer Armee im 1. Weltkrieg.
Aufmüpfiger Geist
Das vielseitig und vor allem musisch begabte Mädchen genoss eine exzellente Ausbildung. Sie studierte Geschichte in Zürich und promovierte im Alter von 23. Aber schon früh zeigte sich, dass Annemarie ein unruhiger, eigenwilliger – um nicht zu sagen: ein rebellischer Geist war. So sehr sie die Berge liebte – die Schweiz wurde ihr zu eng. Und so brach sie auf, um dann über viele Jahre und auf verschiedenen Kontinenten das Leben einer Migrantin zu führen – einer «unheilbar Reisenden», wie sie selber sagte.
Schwarzenbachs literarisches Debüt
Zeitgleich zu ihrem Aufbruch veröffentlichte Annemarie Schwarzenbach ihren ersten Roman: «Freunde um Bernhard». Das Buch, das unverkennbar autobiografische Züge trägt, spielt an wechselnden Schauplätzen: Zürich, Paris, Berlin, Lugano, Florenz. Erzählt wird das Bohème-Leben einer Gruppe von jungen Künstlerinnen und Künstlern. Sie sind alle auf der Suche: nach Liebe, Freundschaft, Erotik. Nach jenem Stoff, aus dem sich ein Leben gestalten liesse. Und befinden sich so permanent auf der Suche nach sich selbst. Damit ist gleichzeitig das zentrale Thema von Annemarie Schwarzenbachs Schreiben umrissen.
«Liebeserklärungen» von Annemarie Schwarzenbach
Leidenschaft und Eleganz
Zu ihrer Sprache und ihrem Stil hatte sie bereits vorher gefunden. Das zeigt eine kurze Erzählung, die erstmals vor vier Jahren aus dem Nachlass veröffentlicht wurde. Ihr Titel: «Eine Frau zu sehen». Darin erzählt Annemarie Schwarzenbach ganz unverstellt davon, wie eine Frau sich in eine Frau verliebt.
Es ist wohl das erste Mal in der Schweizer Literatur, dass die Erfahrung der lesbischen Liebe literarisch explizit dargestellt wird. Der jungen Autorin gelingt das in einer herausragenden stilistischen Brillanz. Leidenschaft verbindet sich sprachlich mit kühler Eleganz. Der Reichtum des sprachlichen Ausdrucks mag für heutige Ohren zuweilen fremdartig klingen, er passt aber bestens zum Schauplatz des novellenartigen Geschehens.
Mondäne Szenerie
Die beiden Frauen – bzw. ihre Blicke – treffen sich nämlich zum ersten Mal am 24. Dezember 1929. Und zwar im noblen Hotel «Palace» in St. Moritz. Das war ein Ort, der der jungen Autorin von vielen Urlauben sehr vertraut war, gehörte sie doch als quasi Eingeborene zur damaligen Jeunesse dorée, zu den Schönen und Reichen der wilden Zwanziger Jahre. Da wurden Partys gefeiert und auch Drogen genommen – und mittendrin Annemarie, eine androgyne Erscheinung mit einer melancholischen Aura. Nicht umsonst war sie eine der meistfotografierten Frauen ihrer Zeit – und ein Anziehungspunkt für beide Geschlechter.
Ende eines modernen Lebens
Annemarie Schwarzenbach lebte also ein erstaunlich modernes, fast schon heutiges Leben. Umso tragischer ist es, dass dieses Leben bereits vor 70 Jahren zu Ende ging. Im September 1942 hatte Annemarie Schwarzenbach in der Nähe ihres Domizils in Sils im Engadin einen Fahrrad-Unfall. Am 15. November 1942 starb sie im Alter von 34 Jahren an den Kopfverletzungen, die sie dabei erlitten hatte.