Früher hat sie nachts geschrieben, zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens, mit dem Walkman am Ohr. Jetzt nicht mehr. Aber das Gefühl für den Sound ist ihr geblieben, das Gespür für Rhythmus, den Beat der Sätze. Erst die Musik, dann die Bedeutung, das ist ihr Arbeitsprinzip. Geschichten kommen dabei heraus, die Rätsel sind, ohne Rätsel zu stellen. Geschichten, die nicht glänzen wollen, die nichts erklären können, Geschichten voller Gefühl und Magie.
Gebaut aus Erinnerungen
Amy Hempel ist eine Sammlerin. Ihre einfachen, seltsamen Short Storys sind gebaut aus Alltags-Leben und Erinnerungen, aus einmal aufgeschnappten Zeilen und irgendwann beobachteten Ereignissen. Wie ein paar wurmstichige Polaroids, die im Gedächtnis haften.
Ihr Lebensgefühl, sagt sie, bestehe aus Augenblicken, nur aus Augenblicken. Es gibt keine Storyline und keinen Plot, nur einen Satz für den Anfang und, vielleicht, einen für den Schluss. Dazwischen sei nichts, erst einmal, oder alles, der Raum der Imagination, der Raum ihrer Geschichte.
Der erste Satz
«In dem Jahr, in dem ich anfing, ‹Wahs› anstelle von ‹Vase› zu sagen, brachte mich ein Mann, den ich kaum kannte, unabsichtlich beinah um.»
Das ist so ein Anfangssatz. Und hier noch einer: «Dann sah ich, wie er aus dem Schutz der Palmen auf mich zuging, und erkannte meinen Fehler.» Der Satz steht zwar in der Mitte der Erzählung «Anbruch des Tages», aber das ändert nichts, denn da fängt die sehr kurze Geschichte erst an, eigentlich.
Was ist passiert? Wir sind auf einer exotischen Ferieninsel. Es gibt Hibiskusblüten in geöffneten Meeresschneckenhäusern auf den Restauranttischen, Blüten, die nur einen Tag leben.
Es gibt ein älteres Paar und ein jüngeres, Hochzeitsringe, die beim Tauchen verloren gehen. Es gibt die Bewegung der Atemrohre unter Wasser, die eine Begegnung am Strand und dann nur noch das Fluchtgefühl: Weg von hier, weg! Warum? Man kann es nur ahnen. Sicher ist etwas anderes, es ist die existenzielle Erschütterung, die dieser kurze Text spüren lässt. Wie ein leichtes Beben, dem die Verunsicherung folgt.
Kein Wort zu viel
«Ich lasse vieles aus, wenn ich die Wahrheit sage», schreibt Amy Hempel in ihrer Titelgeschichte «Die Ernte». Und wirklich, sie lässt vieles aus, aber es ist fast immer das Richtige. Kein Wort zu viel, schon gar kein Satz oder eine Satzfolge. Es ist alles gesagt, wenn wenig gesagt ist, sehr wenig und das Wenige oft schroff nebeneinander steht.
Hier sind es ein junges Mädchen, ein Autounfall, das Krankenhaus, ein Gefängnisausbruch in der Nähe und das Fressverhalten von Haien. Ein merkwürdiger Text, der plötzlich den Leser anspricht, unmittelbar, und sich dabei selbst korrigiert. Was ist tatsächlich passiert? Was sind die Fakten? Täuschung, Lüge, Wahrheit? Vielleicht.
Etwas traurig, sehr souverän
Amy Hempel war Reporterin. Sie hat von Raymond Carver gelernt und von seinem Lektor Gordon Lish. Sie ist Jahrgang 1951 und lebt in New York City. Die Autorenfotos zeigen eine Frau um die 60 mit blondgefärbten, langen Haaren, etwas nachlässig, etwas traurig und sehr souverän.
In Chicago ist sie geboren, und sie hat später prägende Jahre in der Haight-Ashbury-Szene in San Francisco verbracht. Mit der Musik von Grateful Dead und Jefferson Airplane. Witz und Timing lernte sie bei den Stand-up-Comedians der Stadt.
Ihre Mutter brachte sich um in dieser Zeit, sie selbst hatte zwei schwere Autounfälle und ihre beste Freundin starb an Leukämie. «Die Ernte» ist ihr zweiter von insgesamt vier Bänden mit Erzählungen bis heute. «At the Gates of the Animal Kingdom» ist sein Titel im Original, 1990 ist es in den USA erschienen.
«Tiere sehen Dich an»
Das Lesen und Tiere waren schon immer da, sagt Amy Hempel. Das Lesen für den Kampf um Aufmerksamkeit, die Tiere für den Kampf um Nähe. Sie schrieb Tagebuch damals, machte sich Notizen. Weil sie besonders Hunde mag, arbeitete sie jahrelang ehrenamtlich für eine Blindenschule.
Der absolut grausame Tod eines Hundes steht im Finale der Geschichte «Vor den Toren des Tierreichs». Es ist eine Art Opfertod am «Bok-Tag» in Südkorea. Amy Hempel schildert auch das, sehr kalt, ohne Botschaft, dafür mit einem Gefühl, das weit tiefer reicht als die üblichen Konventionen des Tierschutzes. «Tiere sehen Dich an», hat das der englische Schriftsteller John Berger in einem Essay genannt. Bei Amy Hempel hat es Züge einer Vision.
Sie deutet die Schuld nur an, den Riss in unseren Verhältnissen. Das ist die lange Geschichte.