Null, null, null, null. Das ist wichtig. Die Knöpfe am Gasherd müssen auf null sein. Denn sind sie es nicht, strömt Gas aus und die Wohnung fliegt in die Luft. Die Mutter kontrolliert, die Kinder helfen ihr dabei. Es ist ein Ritual. Wie bei anderen Leuten die Gutenachtgeschichte.
Angst vor der Gefahr von aussen
Später kontrolliert die Mutter ein zweites Mal. Und ist sie dann endlich mit ihren drei Kindern unten an der Tramhaltestelle, geht sie wieder zurück und kontrolliert den Gasherd ein drittes Mal.
Das ist nur eines der vielen Bilder und Motive, die Bettina Spoerri auf ihrer langen Suche nach der Mutter und deren Krankheit gefunden hat. Andere sind die Ameisen, vor denen die Mutter sich fürchtet, oder die Wanze aus dem Kinderlied. Die Ameisen, die die Gefahr symbolisieren, die von aussen nach innen dringt. Die Wanze, die dank des Umstands, dass sie bei jeder Strophe einen Buchstaben verliert, ein Bild dafür wird, wie Gefahr gebannt werden kann.
Das Leben bildet die Sprache
Aber nicht nur die Mutter ist Thema hier. Auch die Tochter. Der Roman beschreibt das Verhältnis der beiden und ist letztlich eine Spurensuche der jüngeren. Wie ist sie geworden, was sie ist? Was hat sie geprägt? Und ganz wichtig: Wie habe sie zu ihrer Sprache gefunden?
Die Sprache. Sie nimmt einen besonderen Stellenwert ein. Die Mutter liest. Wie verrückt, ist man versucht zu sagen. Sie hört Platten von Hans Dieter Hüsch und Don Mc Lean. Sie lebt in der Kultur. Geht ins Kino, Konzert, Theater und Museum. Die Tochter immer dabei. Das prägt und bildet eine neue, eigene Sprache, die sich hier wiederfindet.
Eine Generation mit Hang zur Depression
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Doch ist der Roman mehr als Sprach- und Spurensuche und mehr als Mutterporträt. Spoerri stellt ihre Mutter in eine Zeit. Die Siebziger- und Achtzigerjahre, in denen Ereignisse wie Tschernobyl und der Grossbrand im Industriegebiet Schweizerhalle aktuell sind.
Auch das ist kein Zufall, sondern wiederum ein Bild für das Eindringen einer äusseren Gefahr. Eine verrückte Frau in einer verrückten Welt. Und noch ein historischer Aspekt ist dabei: die Frauen mit Jahrgang 1930. Die letzte voremanzipierte Frauengeneration und ihr Hang zur Depression.
Die Angst vor dem Umbruch
Blenden wir zurück: Anfang der 1950er-Jahre sind sie jung. Sie heiraten, haben Kinder, richten sich ein in ein Leben in traditionellen Bahnen. Dann geht vielleicht der Mann, wie im Fall von Spoerris Mutter. Oder er geht auch nicht. Aber von aussen bricht was rein, was niemand kommen sieht. Die Emanzipation, die sexuelle Befreiung, der gesellschaftliche Umbruch.
Für manche kommt das zu spät. Oder sie schaffen die Kurve nicht. Sie sind doppelt frustriert. Auf ein selbstbestimmtes Leben haben sie verzichtet und ein neues trauen sie sich nicht zu. Nicht gelebtes Leben – die Depression eine mögliche Reaktionsweise.
Viele Bücher und viele Medikamente
Die Flucht in Parallelwelten, und seien sie kulturell noch so hochstehend, wird Programm. Wieviele Frauen aus jener Generation haben Regale voller Bücher und Badzimmerschränke voller Psychopharmaka?
Bettina Spoerri schafft es, all das in eine Form zu bringen. Kurze, sauber gearbeitete Kapitel, die zusammen ein ganzes ergeben. Ein Blickwinkel, der sich mit dem Älterwerden der Erzählerin verändert. Eine Sprache die sich diesem Sachverhalt anpasst und eine Eigenständigkeit bewahrt. Ein gelungenes Porträt, vermutlich auch eine erfolgreiche Spurensuche. Ganz bestimmt aber ein geglücktes Sprachexperiment.