Willie Sutton soll einmal gesagt haben, er überfalle Banken, «weil dort das Geld liegt». Aber eigentlich hat er das ganze Bankensystem gehasst. Für ihn war es Schuld an der damaligen Wirtschaftskrise und der deprimierenden Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten. Mit dieser Einstellung war er nicht allein, so sagte Bertold Brecht dazu: «Was ist das Ausrauben einer Bank gegen die Gründung einer Bank?»
Raub als Rebellion
Bankraub war Suttons Art gegen eine Gesellschaft zu rebellieren, die ihm keine Chance geben wollte. Als Sohn irischer Einwanderer konnte der Schulabgänger um 1914 in New York keinen Job finden oder hat ihn schnell wieder verloren. Sutton lungerte viel mit seinen Freunden herum. Um eine Frau zu beeindrucken, knackte er einen Safe und bald darauf überfiel er die erste Bank. 1926 landete der 25jährige zum ersten Mal im Gefängnis.
Ein beliebter Bankräuber
Willie Sutton war ein Krimineller, der die Menschen faszinierte. Viele haben sich fast ein wenig gefreut, wenn ihm wieder ein Raub gelungen war. Und das, weil er nie einen einzigen Schuss abgegeben hat. Und weil er bei der Planung eines Raubüberfalls äusserst raffiniert vorging, wie der folgende Auszug aus «Knapp am Herz vorbei» zeigt:
«Für Willie muss jede ausgewählte Bank eine Bedingung erfüllen: Man muss sie von einem Café aus klar sehen können. In den Tagen vor einem Raub kauft Willie einen Spiralblock und setzt sich stundenlang in das Café, beobachtet, macht sich Notizen. Er schreibt auf, wann die Bankangestellten kommen, welche klug aussehen und welche so, als könnten sie Ärger machen. Er verwendet Zeichenlineale und Buntstifte, um detaillierte Bilder, Skizzen und Karten anzufertigen. Manchmal wartet er, bis die Bank schliesst, und folgt den Angestellten in ihre bevorzugten Lokale. Er belauscht ihre Gespräche, erfährt ihre Namen, die Namen ihrer Ehefrauen. Während des Überfalls spricht er die Angestellten namentlich an oder lässt nebenbei den einer Ehefrau fallen. Tun Sie, was ich sage, Mr. Myers, oder Sie sehen Harriet nie wieder.» (aus: «Knapp am Herz vorbei»)
17 Jahre im Gefängnis
Willie Sutton bestahl nur Menschen, «denen es nicht weiter schadet» und erklärte zitternden Bankbeamten auch mal: «Die Versicherung wird dafür aufkommen.» Entkommen konnte Willie Sutton nicht immer. Die Hälfte seines Erwachsenenlebens verbrachte im Gefängnis. 1969 wird er nach 17 Jahren endgültig freigelassen. Vor dem Gefängnis warten Radio- und Fernsehreporter. Und hier beginnt der Roman «Knapp am Herz vorbei».
Ein Robin Hood
Pulitzerpreisträger J.R. Moehringer war schon als Junge fasziniert vom legendären Bankräuber. Seine Grosseltern sprachen immer mit viel Bewunderung von Sutton und verglichen ihn mit Robin Hood. Amerikas Bankenkrise vor gut vier Jahren hat Moehringer dann zu seinem neuen Roman inspiriert. Er recherchierte viel, hatte Zugang zu Akten des FBI, sprach mit Familie und Freunden von Sutton. Zudem verbrachte er einen Tag in Suttons ehemaliger Gefängniszelle. Und dann gab es noch zwei Autobiographien von Sutton, die sich allerdings ziemlich widersprechen.
Biografie oder Fiktion?
«Knapp am Herz vorbei» ist keine Biografie. Moehringer hält sich an die Fakten, die bekannt sind, aber es gibt Lücken und diese füllt er mit Fiktion. Er habe «einfach Luft in die Flammen gepustet». Im Vorwort schreibt Moehringer: «Dieses Buch ist meine Vermutung. Und zugleich mein Wunsch.»
Die Geschichte ist so eindrücklich und gut erzählt, so dass man den Kriminellen richtig gern haben kann. Wir lernen einen Mann kennen, hart und sensibel, witzig und gescheit, belesen und kultiviert. Einen Liebenden, vom Leben enttäuschten und trotzdem optimistischen Menschen.