Sie alle folgten dem Aufruf des jungen binooki-Verlags, der ausschliesslich Übersetzungen aus dem Türkischen veröffentlicht: Bestsellerautorin Ayse Kulin und Oya Baydar, die Grande Dame der türkischen politischen Literatur, Satiriker Baris Uygur genauso wie Lyriker Gökcenur C. und Kultautor Murat Uruykulak, der schon in den ersten Tagen der Proteste in Gezi dabei war. Neunzehn Autorinnen und Autoren, die auf den Punkt zu bringen versuchen, wie und warum Gezi die türkische Gesellschaft verändert hat.
«Das Tor zur direkten Demokratie ist aufgestossen», heisst es in einem der 21 Artikel von Burhan Sönmez‘ Streitschrift «Ästhetik des Widerstands», der «Gezi – Eine literarische Anthologie» eröffnet. Nicht von ungefähr trägt dieser Text denselben Titel wie Peter Weiss‘ dreibändiger Roman: Im Kleinen destilliert Sönmez, Schriftsteller und Politiker mit kurdischen Wurzeln, die gesellschaftliche, kulturelle und politische Essenz der Gezi-Bewegung, wie es Peter Weiss im Grossen mit der Arbeiterbewegung tat.
Vereint und ohne Angst
Er kommt dabei zu Erkenntnissen, die sich in Variationen in allen Texten wiederholen: Plötzlich war die lähmende Angst weg, die das Land seit dem Militärputsch von 1980 und dem Krieg gegen die Kurden in den 1990er Jahren beherrscht hatte, plötzlich war es möglich, quer durch soziale Schichten, kulturelle Wurzeln, politische Überzeugungen und persönliche Neigungen an einem Strick zu ziehen: «Niemand schreibt niemandem etwas vor, jeder ist mit seinen Farben auf seine Weise dabei.»
Sönmez windet insbesondere den jungen Leuten ein Kränzchen. Mit ihrem Humor und ihren kreativen, von sozialen Medien und Computerspielen inspirierten Strategien leisteten sie einen entscheidenden Beitrag dazu, dass die Proteste trotz Schneeballeffekt und massiver Polizeigewalt friedlich verliefen – und wohl nachhaltig sein werden: «Den schönsten Spruch schrieben Jugendliche an die Mauern: ‚Selbst wenn wir unterliegen, den Geschmack von Aufstand haben wir nun auf der Zunge.‘»
Texte und Fotos im Dialog
Wie humorvoll, wie poetisch, wie solidarisch die Gezi-Proteste waren, belegen auch die Fotos von Selen Özer Günday, die in einen wunderbaren Dialog mit den 21 Erzählungen, Essays und Gedichten treten: Der Taksim-Platz voller Menschen abends im Gegenlicht; hoch auf einem Lampenpfosten zwei junge Männer, in den Händen eine leere Gaspatrone – in wenigen Wochen soll die Polizei den Tränengasvorrat von zwei Jahren verschossen haben –, aus der Bäumchen spriessen.
Oder ein liebevoll aus Pflastersteinen errichteter Stand, bestückt mit Kekspackungen aller Art. Dabei ein Zettel: «Du gehst zur Arbeit? Nimm eine Packung Kekse mit, verteil sie an die Kollegen im Büro.» Das ist nicht nur Ausdruck von Fürsorge und Solidarität, wie sie in der Gezi-Bewegung mit Verve gelebt wurde, sondern auch Augenzwinkern: Mit Keksen lässt sich die Revolution ins Büro tragen …
Gegen das Umschreiben von Geschichte
Dass Gezi nicht einfach ein schäbiger Park und der angrenzende Taksim nicht einfach ein gesichtsloser Platz ist, das wussten die Demonstrierenden, und Karin Karakasli, Schriftstellerin und Journalistin mit armenischen Wurzeln, zeichnet es in ihrem Text «Der Tropfen zum Überlaufen» nach. Noch-Premier und wohl Bald-Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der die Proteste mit seiner zunehmend restriktiven Politik überhaupt erst befeuerte, wollte mit den Plänen zur Umgestaltung von Park und Platz auch die Geschichte umschreiben: in eine religiös-nationalistische.
Gezi und Taksim stehen aber für die osmanische und für die jüngere, kemalistische Vergangenheit und grenzen an Kirchen, ehemals griechische und jüdische Häuser, den einstigen armenischen Friedhof. Sie waren zum Beispiel Schauplatz des Aufstands einer Handvoll islamtreuer Soldaten 1909 und der Demonstration fast einer halben Million Menschen am 1. Mai 1977. Blutig endeten sowohl Kundgebung wie Aufstand. Eingeläutet wurde das Ende des Sultanats 1922, der Anfang der Militärdiktatur 1980, und nun, mit den Protesten vom Sommer 2013, vielleicht eine Demokratie, die ihren Namen verdient.