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Porträt einer älteren Frau mit weissen Haaren.
Legende: Der stete Wandel zog sich durch ihr facettenreiches Werk: Doris Lessing. Reuters

Literatur Bodenständige Visionärin: Eine Würdigung von Doris Lessing

Wie kaum eine andere Schriftstellerin hat Doris Lessing schreibend Zeugnis abgelegt von den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Und erfand dabei bis ins hohe Alter neue, oft Konventionen sprengende Welten. Nun ist die Nobelpreisträgerin 94-jährig in London gestorben.

Die Nachricht überraschte sie beim Einkaufen. Als sie zuhause ankam, warteten schon die Reporter vor ihrem bescheidenen Reihenhaus in West Hampstead. Mit dem Nobelpreis damals 2007 hatte sie selbst zuletzt gerechnet. Sie war 87 Jahre alt, ihre besten Werke hatte sie längst geschrieben, mit ihrem üppigen stahlgrauen Haarknoten und ihrer unkomplizierten Freundlichkeit wirkte sie eher wie eine sockenstrickende Oma als eine weltberühmte Schriftstellerin.

Schalk und Gelassenheit

Das teils hämische Befremden über den Entscheid des Nobelpreiskomitees nahm sie gelassen. In einem BBC-Interview berichtete sie vergnügt, wie die Stockholmer Akademie in den 1960er Jahren eigens einen ihrer Wasserträger nach London habe schicken lassen, um ihr mitzuteilen, «dass sie mich nicht mögen und mir den Nobelpreis nie geben werden». Und beantwortete die Frage nach dem überraschenden Sinneswandel des Komitees gleich selbst: «Sie können den Nobelpreis keinem Toten geben. Deshalb haben sie wahrscheinlich gedacht, ihn mir besser jetzt zu geben – bevor ich abkratze.»

Ähnlichen Schalk bewies Doris Lessing auch, als sie sich Mitte der 1980er-Jahre den Scherz erlaubte, ihrem Verlag ein Manuskript unter dem Namen Jane Somers einzureichen. Prompt schickte man ihr «The Diary of a Good Neighbour» zurück.

Spiel mit Identität

Doris Lessing sitzt vor ihrem Haus auf der Treppe.
Legende: Literatur-Nobelpreisträgerin Doris Lessing. Keystone

Dabei ging es ihr aber wohl um mehr als nur darum, zu beweisen, dass man «als Unbekannte keine Chance auf Beachtung» habe. Denn Doris Lessing hat sich in ihrer langen schriftstellerischen Karriere und ihren über 50 Büchern immer wieder neu erfunden.

In ihrem Debüt «Afrikanische Tragödie» («The Grass Is Singing», 1950) thematisierte sie die Tragödie der Apartheid, in den sechs Romanen mit dem Obertitel «Children of Violence» (1952–69) zeichnet sie den Aufbruch aus der Denkwelt der eigenen Herkunft, aber auch einer ganzen Generation nach, mit «Das goldene Notizbuch» («The Golden Notebook», 1962) schrieb sie einen feministischen Klassiker und im Science-Fiction-Zyklus «Canopus im Argos» («Canopus in Argos», 1979-83) vermengte sie postimperialistische Allegorien mit beängstigend realistischen Visionen einer menschengemachten Apokalypse.

Gegen jede Vereinnahmung

Sendungen zum Thema

Anti-Rassistin, Kommunistin, Feministin, Mystikerin, Kassandra in Sachen Umweltzerstörung, selbsternannte kosmische Anthropologin – ihr unkonventionelles Leben und Denken, ihre vielen Wandlungen hat Doris Lessing in wild mäandernde Literatur gegossen. Aber so viele Wege sie auch beschritt, inhaltlich wie formal: gegen Vereinnahmungen hat sie sich stets verwahrt. Was für sie zählte, war das Fragen und Forschen ohne Scheuklappen: «Ich betrachte Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf der ganzen Welt als eine Einheit, beinahe als einen Organismus, der von der jeweiligen Gesellschaft entwickelt wurde als ein Mittel zur Selbstbefragung.»

Dieser Forschungswille ist wohl auch biografisch bedingt, hat Doris Lessing doch das 20. Jahrhundert in seiner ganzen Dramatik miterlebt. Geboren wurde sie am 22. Oktober 1919 als Doris May Taylor im persischen Kermanshah. Ihr Vater, körperlich und psychisch versehrt vom Ersten Weltkrieg, wollte mit England nichts mehr zu tun haben: «Die Wut meines Vaters auf die Schützengräben hat sich schon in jungen Jahren auf mich übertragen und sich seither nicht verflüchtigt ... Ein Vermächtnis, auf das ich gern verzichtet hätte.»

Nomadin von Geburt an

In den ersten Jahren war die Familie dauernd unterwegs, zwischen Iran, Russland, England, Afrika. Dann, als Doris 5 war, liess sie sich in Südrhodesien (heute Simbabwe) nieder. Ein Debakel vor allem auch für die Mutter, die gegen die rauen Wirklichkeit auf einer unrentablen Farm «upper class British manner» hochhielt.

Die Tochter spuckte darauf, schmiss mit 14 die Schule, um sich in Hauptstadt Salisbury (heute Harare) Jobs, Büchern und linken Ideen zu widmen. 1939 die erste Ehe, 1943 Scheidung, die beiden Kinder blieben beim Vater. 1945 Heirat mit dem deutsch-jüdischen Flüchtling Gottfried Lessing, dem charismatischen Kopf der lokalen Kommunisten. Nach der Scheidung von Lessing übersiedelte sie mit dem gemeinsamen Sohn und dem Manuskript ihres Romans «Afrikanische Tragödie» im Gepäck 1949 ins kriegszerstörte London.

Afrika als Lebensthema

«Afrikanische Tragödie», dieses Buch über die Trostlosigkeit des Kolonialismus nicht nur für die Kolonisierten, sondern auch für die Kolonisatoren, brachte Doris Lessing ersten Ruhm und jahrzehntelange Einreiseverbote für Rhodesien und Südafrika ein. Afrika hat sie nicht losgelassen, es war eines ihrer grossen Themen, wie der Rassismus, wie Diskriminierung überhaupt.

In ihrem letzten Roman «Alfred und Emily» («Alfred and Emily», 2008) kehrte sie noch einmal zurück nach Simbabwe, nahm aber zuerst einen jener für sie so typischen Umwege über die Utopie: Der Erste Weltkrieg hat nicht stattgefunden, der Vater wird sich den Herzenswunsch eines Bauernlebens in England erfüllen, die Mutter sich zur emanzipierten Frau entwickeln können.

Umso eindringlicher dann die Schilderungen der Realität: beide Eltern waren in ihren je eigenen Traumata gefangen, schon als sie sich kennenlernten, im Lazarett, wo die Mutter als Krankenschwester arbeitete und nicht über den Verlust ihres gefallenen Geliebten hinweg kam und dem Vater das Bein amputiert wurde.

Kontinuität im Wandel

Immer wieder hat Doris Lessing Tabus gebrochen, immer wieder vor der Zeit Themen aufgegriffen (fehlgeleitete Entwicklungshilfe zum Beispiel, Sexualität im Alter oder Patchwork-Gemeinschaften) und sich von der einzigen Ideologie, der sie je anhing, auch vor der Zeit verabschiedet: Als der ungarische Volksaufstand 1956 von der Roten Armee blutig niedergeschlagen wurde, war es mit ihrer einst glühenden Begeisterung für den Kommunismus endgültig vorbei.

Auch wenn ihn nicht alle ihre Leserinnen und Leser immer mitmachen wollten: der stete Wandel zog sich wie ein roter Faden durch Doris Lessings überaus facettenreiches Werk. Und mehr noch als die Kühnheit war es die wirklichkeitsgesättigte Bodenständigkeit ihrer literarischen Visionen, die auf immer neue Generationen elektrisierend wirkte.

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