Das Cover der ersten Ausgabe von «Charlie Hebdo» nach dem Anschlag vom 7. Januar zeigt den weinenden Propheten Mohammed mit dem Schild «Je suis Charlie». Über seinem Kopf prangt der Satz: «Tout est pardonné» – alles ist verziehen. Das Heft verkaufte sich millionenfach. Der Autor dieser Zeichnung: Renald Luzier.
Sein Zuspätkommen rettete ihm das Leben
Der 43-jährige Luz, wie Luzier als Zeichner heisst, hat am 7. Januar Geburtstag. Deswegen, und nur deswegen überlebte er das Attentat auf «Charlie Hebdo». Er blieb an jenem Dienstagmorgen eine Stunde länger im Bett, feierte ein bisschen mit seiner Frau und machte sich dann auf den Weg zum Redaktionsgebäude.
Was ihn dort erwartete, ist bekannt: Er hört Schüsse, sieht, wie die Terroristen aus dem Gebäude stürzen, rennt in die Redaktion und findet die Toten. Zwölf Menschen verloren beim Anschlag ihr Leben, darunter der Grossteil der Redaktion. In den Tagen danach ist Luz wie gelähmt. Die Demonstration am 11. Januar kommt ihm völlig irreal vor. Er marschiert mit einer Million Menschen, darunter sind auch die Politiker, die er jahrelang aufs Schärfste karikiert hat. Luz verliert beinahe den Verstand.
Eine streng bewachte Buchvernissage
Jetzt erscheint auf Deutsch ein Band mit Zeichnungen, in denen Luz von seiner Angst und den Schrecken nach dem Attentat erzählt: «Katharsis». Im Hinterzimmer eines kleinen Verlags in Paris stellt der 43-Jährige sein Werk vor. Es zeigt, wie Luz die Tragödie überlebt hat und was danach mit ihm geschah. Luz' Hände zittern leicht beim Sprechen. Er ist ein witziger und schlagfertiger Typ mit grosser Brille, etwas zwischen Hipster und Nerd. Knapp neun Monate ist es her, dass er beim Anschlag fast alle seine Kollegen verloren hat. Im Nebenzimmer sind zwei Polizisten, im Hof drei weitere. Alle schwer bewaffnet, aber alle so diskret, dass man sie kaum wahrnimmt.
Er glaube, es gehe im besser, sagt Luz. Aber man wisse nicht, was noch alles hochkommen könne. Ängste würden verschwinden, neue kommen, aber der Abstand zu allem helfe. Seine Ginette sei immer noch da.
Die Angst in den Griff kriegen
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Ginette, das ist eine Figur aus seinem Comic «Katharsis»: ein Kloss im Bauch, eine Kugel, die ständig ihre Form verändert, mal riesig wird und bedrohend, mal wieder klein und süss. Ginette kann sprechen. Sie ist ein Bild für all die Trauer, die Wut, Bitterkeit und Verzweiflung, die sich nach dem Anschlag in Luz ausgebreitet hat.
Ginette markiert aber auch den ersten Schritt aus der Krise, denn solange Luz mit ihr sprechen kann, solange er ihr einen Namen gibt, solange hat er seine Ängste einigermassen im Griff – und genau darum geht es in diesem Comic: Die Angst in den Griff kriegen. Man sieht Luz dabei zu, wie er versucht, nach einer unvorstellbaren Katastrophe wieder zu sich zu finden.
Wider Erwarten lebensbejahend
«Katharsis» beginnt am Tag des Anschlags, als Luz im Polizeigebäude sitzt und aussagen soll. Er bittet um ein Blatt Papier und einen Bleistift. Und skizziert Männchen. Männchen mit grossen, starrenden Augen. Sonst nichts.
Eine der letzten Zeichnungen des Bandes zeigt Luz' Frau, die ihn umarmt und sagt: Wollen wir nicht auch so ein Männchen machen? Was die beiden damals noch nicht wissen: Luz' Frau ist zu diesem Zeitpunkt schon schwanger. Das Leben geht weiter. Für das Paar, für alle drei. So sagt es Luz am Ende des Gesprächs in Paris.
«Katharsis» ist ein extrem eindrücklicher Comicband – wider Erwarten sogar lebensbejahend. Es handelt sich nicht länger um die Zeichnungen des zynischen politischen Karikaturisten Luz, es ist ein ganz persönliches und intimes Plädoyer für die Liebe und das Weiterleben.