Colm Toibin ist ein Meister der genauen Beobachtung und der atmosphärischen Dichte. Er konzentriert sich dabei nicht auf die vordergründigen Dramen im Leben, sondern fokussiert auf die subtilen Momente im Alltag. Er spürt den stillen, verborgenen Emotionen nach.
So ist es typisch, dass sein Roman «Nora Webster» nicht vom Sterben und Tod des Dorfschullehrers Maurice erzählt, sondern erst ein paar Wochen später einsetzt: Wie geht man in seiner Familie mit Trauer um? Wann kippt Anteilnahme der Bevölkerung um in soziale Kontrolle? Wer bestimmt eigentlich, was sich für eine Witwe gehört?
Sie trotzt den Erwartungen
Nora Webster muss nach dem Verlust ihres Mannes alleine für ihre vier Kinder aufkommen. Sie kehrt an ihren früheren Arbeitsplatz zurück und wird von ihrer einstigen Vorgesetzten schikaniert. In der Stadt Enniscorthy, wo jeder jeden seit Geburt kennt, steht sie unter ständiger Aufsicht. Aber sie lässt sich nicht unterkriegen.
Sie kontert, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt. Sie foutiert sich um ihren Ruf, wenn sie keck die Haare färbt. Und sie macht ihrem Ärger Luft, wenn ein Lehrer ihren Sohn schlecht behandelt.
Auf ihre ganz eigene, widerborstige Art trotzt Nora Webster den Erwartungen ihrer Umgebung. Sie gönnt sich auch mal einen ausgelassenen Abend mit einer Freundin, entdeckt neu die Liebe zur Musik und tritt sogar der Gewerkschaft bei.
Mit dabei auf einer inneren Reise
Es sind keine grossen Zeichen der Rebellion, sondern Versuche, in einem konservativen Milieu sich selber treu zu bleiben. So gesehen ist «Nora Webster» auch keine klassische Emanzipationsgeschichte.
Wir lernen hier eine Frau kennen, die es intuitiv versteht, in belastenden Zeiten auf ihre eigenen Ressourcen zurückzugreifen. Sie geht unerschrocken den Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Auf dieser inneren Reise sind wir hautnah mit dabei.
Schreiben aus Erfahrung
Colm Toibin setzt mit dieser Geschichte aus den 1960er-Jahren der Generation seiner Mutter ein literarisches Denkmal: Auch er hat früh seinen Vater verloren und hautnah miterlebt, wie schwierig es für die Familie wurde, ohne Mann im Haus finanziell über die Runden zu kommen.
Den Autor erkennt man im 12-jährigen Sohn Donal wieder, der eines Tages plötzlich zu stottern beginnt und im Fotografieren seine ganz grosse Leidenschaft entdeckt.
Er habe tatsächlich nach dem Tod des Vaters grosse Sprechschwierigkeiten bekommen, erzählt Colm Toibin im Rückblick: «Nur hat leider niemand hier einen Zusammenhang erkannt. Kinderpsychologie war in der irischen Provinz noch nicht angekommen.» Im Übrigen sei es bei ihm nicht die Liebe zum Bild gewesen, die ihn gerettet habe, sondern die Begeisterung für Poesie.
Persönlich mit der nötigen Distanz
«Nora Webster» darf wohl als Toibins persönlichstes Buch bezeichnet werden. Die Entstehungszeit dauerte mehr als zehn Jahre. Dazwischen schoben sich andere Texte.
Man spürt beim Lesen, dass dieser Roman langsam gewachsen ist und Nora immer mehr Gestalt und Charakter angenommen hat. Colm Toibin erzählt nicht linear, sondern versammelt hier Erfahrungen, Beobachtungen und Momente. Er gibt den Erinnerungen an seine Kinder- und Jugendjahre in Enniscorthy Raum.
Wenn ein Stein ins Wasser fällt
Er lässt spürbar die warmen Gefühle für seine Mutter einfliessen, ohne aber die nötige Distanz zu verlieren. Ein Kritiker verglich den Bau des Buches mit einem Teich: «Mit dem Tod von Maurice fällt ein Stein ins Wasser, und nun studiert der Autor die Kreise, die auf die Erschütterung folgen.»
«Nora Webster» wird bereits neben Klassiker gestellt wie «Effi Briest» oder «Anna Karenina». Kein Wunder gilt Colm Toibin schon länger als heimlicher Favorit für den Literaturnobelpreis.