Ende 1918, am Horn von Afrika. In Europa ist der Krieg beendet, in Afrika wird munter weitergekämpft. Corto Maltese ist mit Cush, einem Afar-Krieger, unterwegs. Sie wollen einen jungen Prinzen aus den Fängen seines machtgierigen Onkels befreien – und taucht ein in ein furios fiebriges Abenteuer, das zwischen Freundschaft und Hass, Loyalität und Verrat, zwischen Stammesgesetzen, Armeedisziplin, Anarchie und Freiheit pendelt.
Belesener Weltenbummler
Mit Corto Maltese schuf der italienische Comic-Autor Hugo Pratt 1967 eine der ganz grossen und lebensechten Comic-Figuren. Corto Maltese, der Seemann ohne Heimathafen und Anarchist ohne Glauben an die Anarchie, lässt sich von Kontinent zu Kontinent, von Abenteuer zu Abenteuer treiben. Doch geht es Hugo Pratt um mehr als um den Nervenkitzel vor exotischer Kulisse.
Der belesene Weltenbummler Pratt verknüpft Cortos Abenteuer zum einen mit der Zeitgeschichte: Corto tummelt sich oft auf den Schauplätzen historischer Ereignisse, die er mit ironischer Distanz beobachtet, ehe er dann doch eingreift. Zum anderen verwebt Pratt Erlebnisse seines Protagonisten mit lokalen Mythen und Mystik, in die Corto skeptisch, aber vorurteilsfrei eintaucht.
Mehr als nur Fiktion
Corto ist auch erstaunlich gebildet: In Argentinien hat er angeblich mit Jack London und Eugene O'Neill Nächte durchzecht. In Ancona hat er in einem Hotel mit einem gewissen Jo gejobbt, als dieser noch nicht Stalin hiess. In der Schweiz philosophiert er mit Hermann Hesse über die Alchimisten des Mittelalters.
In «Die Äthiopier» liefert sich Corto mit dem strenggläubigen Muslim Cush ironisch-polemische Streitgespräche über den Koran, doch lieber als Suren zitiert er Verse des Waffenhändlers und Poeten Arthur Rimbaud.
Kurz: Fiktion, historisch verbürgte Anekdoten, literarische Verweise, Mythologie und Phantasie vermählen sich in den Corto-Maltese-Geschichten stimmungsvoll und unterfüttern die hochspannende Handlung.
Bis an die Grenzen zur Abstraktion
Seine Glaubhaftigkeit und Vielschichtigkeit verdankt Corto nicht zuletzt dem Zeichenstil von Hugo Pratt. Sein scheinbar flüchtiger, in Wahrheit hoch präziser Pinselstrich, der Schatten und Licht bis an die Grenzen zur Abstraktion auflöst, gewährt dem Leser viel Raum für die eigene Imagination, eigene Emotionen und nicht zuletzt für die Identifikation.
Während Corto Maltese in Ländern wie Frankreich und Italien zum Mythos wurde, der sogar für ein Herrenparfüm von Dior warb, fristete er im deutschen Sprachraum ein Nischendasein. Vielleicht ändert sich das dank der neuen Edition des Verlags Schreiber & Leser. Dort erscheint jeder Band in zwei Ausgaben: In einer kolorierten Fassung und – in limitierter Auflage – im schwarzweissen Original.
Vorläufer der Graphic-Novel
Mit «Corto Maltese» erneuerte der 1995 verstorbene Wahlschweizer Hugo Pratt nicht nur den Abenteuer-Comic, sondern pulverisierte mit seinen epischen Geschichten auch die engen Erzählformate des Comics. Damit gehört er vor bereits fünfzig Jahren zu den Mitbegründern des Comic-Romans, dem Vorläufer der heutigen Graphic Novel. Durch «Corto Maltese» fand er Anerkennung weit über die Comic-Welt hinaus als einer der grössten Fabulierer, Zeichner und Mythenschöpfer.