«Ich ziehe immer die Notbremse.» Wie gerne hätte Theres Ulmer diesen Satz von Claire Zachanassian einmal im Leben in den Theatersaal hineingeschmettert, in dem all die «Dotteli» ihres Dorfs sitzen. Wie gerne hätte sie im Dorftheater, wo sie selbstverständlich der Bühnenstar war, Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» gespielt.
Aber nein: «D Visite vo dr àlt Madame» sei doch keine Dorfkomödie, das wolle doch keiner sehen, meinte Chilles, der Präsident des Theatervereins. Bei ihnen spiele man «De Hochzitter em Kleiderkàschda» oder «Hit word gerbt». Da hörte die Ulmer Theres auf mit dem Theaterspielen.
Das Dorf tuschelt
Aber «d Wäscher Clairi», wie Claire Zachanassian geheissen hatte, bevor sie aus Güllen wegmusste, geschwängert und verlassen von ihrem Liebsten, d Wäscher Clairi bleibt der Leitstern im Leben der Ulmer Theres. Was niemand weiss: Auch Theres Ulmer, diese Frau aus einem Kaff im Elsass, hat die Notbremse gezogen, einmal im Leben.
«Wäje dämm bin i so bees», sinniert sie. Einsam sitzt sie am Fenster und erzählt ihre tieftraurige Lebensgeschichte. Als junges Mädchen bei einem Fest vergewaltigt, geschwängert und deshalb gezwungen, ihren Peiniger zu heiraten, verbringt sie ein liebloses Leben. Bis ihr Mann im Suff die Kellertreppe hinunter zu Tode stürzt – nicht ganz freiwillig. Die Dorfgemeinschaft schaut zu, wie immer, schweigt, tuschelt.
Bosheit mit Bildung
Der Mann tot. Der Sohn tot (er was homosexuell, ein weiteres Stigma im Dorf, und einer der ersten AIDS-Toten der 1980er-Jahre). Das Dorf als vereinte Gegnerschaft. Genuss im Leben verleiht der Ulmer Theres einzig noch die eigene Bosheit. Trotzdem hat man als Leser Verständnis für sie und leidet mit ihr.
Denn sie ist nicht «bleed», sie ist «bees»: Sie hat auch Bildung! Sie war zwei Jahre «em Pensionnat en Ràbschwihr, bi de Schweschtra». Und weil sie Bildung hat, ist sie noch böser: «Ich bin a beesi Frau met Beldung, voilà.»
«Drucka àn de Achsel»
Pierre Kretz kreiert eindrücklich und glaubhaft das Schicksal einer Frau, wie es sie hundertfach gegeben haben könnte. Im Elsass oder tief in irgendeinem mitteleuropäischen Dorf im frühen 20. Jahrhundert. Konkurrenz zwischen den Familien, Neid und Hass gegeneinander herrschte da, aber auch Zusammenhalt wie Pech und Schwefel – wenn man denn die ungeschriebenen Regeln akzeptierte.
Dank der patriarchalischen Strukturen geniesst im Theaterstück sogar der Vergewaltiger heimliche Bewunderung: «Dr Emil dar kànns! Dar weiss wie mr umgeht met de Wiiwer!». Da bleibt nur die Multimilliardärin Claire Zachanassian aus Dürrenmatts Stück als Lichtgestalt für die traurige Seele der Ulmer Theres. Aber Claire hatte Geld, um sich die Gerechtigkeit zu kaufen. Theres nicht, sie musste selber Hand anlegen: «No hàwi s gemàcht. Ich hàb na gràd a bessel brucha drucka àn de Achsel … gràd a so … a gànz kleins bessala. Àwer dess hàwi gemàcht.»
Vom Aussterben bedroht
Ein elendes, seither aber befreites Leben, monologisch erzählt im wunderbar singenden und klingenden Dialekt des elsässischen Unterlands. Eine Sprache, die man im Elsass nicht mehr oft hört. Die ElsässerInnen reden heute mehrheitlich Französisch.
Pierre Kretz selbst stammt aus der Gegend von Schlettstadt. Dialekt rede er eigentlich nur noch mit seinen Schweizer Bekannten, sagt der Autor. Im Elsass gebe es, wenn eine Gruppe zusammenkommt, immer einen, der nicht Elsässisch könne - dann wechsle man halt ins Französische. Seine Geschichte «Ich bin a beesi Frau» kommt deshalb zweisprachig, Elsässerdeutsch und Französisch, heraus. Es ist eine eindrückliche Geschichte, unabhängig von der Sprache.