Sie hat praktisch alle wichtigen Literaturpreise eingeheimst und sogar schon darum gebeten, man möge nun doch die jüngeren Autorinnen und Autoren berücksichtigen. Seit Jahren ist Alice Munro auch für den Nobelpreis der Literatur gehandelt worden. Nun hat sie ihn. Und sie hat ihn verdient. Da sind sich alle einig.
Heiss ersehnt: die neuen Geschichten der Nobelpreisträgerin
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Die neue Erzählsammlung mit dem Originaltitel «Dear Life» ist schon 2012 auf Englisch erschienen. Die deutsche Übersetzung «Liebes Leben» wurde wegen der grossen Nachfrage nach der Nobelpreisverleihung um ein paar Monate vorgezogen. Es ist wieder ein Buch über das aussergewöhnliche gewöhnliche Leben. Das Leben ganz normaler Menschen in der kanadischen Provinz. Die meisten Geschichten werden aus der Perspektive einer Frau erzählt.
Katastrophen passieren. Das Leben geht weiter.
Die Erzählung mit dem Titel «Amundsen» ist eine der längsten, 41 Seiten. Eine junge Lehrerin unterrichtet in einem Sanatorium tuberkulosekranke Kinder. Sie verliebt sich in den Oberarzt, er will sie heiraten. Es geht schnell. Bald darauf fahren sie zum Standesamt. Unterwegs, auf einer Damentoilette, zieht sich die Braut noch rasch das Hochzeitskleid über. Zurück im Auto dann der Schock: Er will nicht mehr.
Sie fährt allein zurück mit dem Zug. Im gleichen Bahnwagen sitzt ein Mädchen aus der Schule und fragt sie, woher sie komme. Sie: «War auf Besuch bei einer Freundin.» Das Mädchen: «Sie haben sich aber schön gemacht.»
Das Geheimnis der Geschichten
Alice Munro ist nie sentimental. Lakonisch schildert sie die grössten Dramen, die sich ganz unscheinbar und langsam heranschleichen. Gerade deshalb sind die Erzählungen so stark. Und weil kein Wort zu viel ist.
Die Autorin geht nah ran, schaut genau hin und interessiert sich fürs Kleine. Sie beleuchtet Momente im menschlichen Leben und zeigt, was alles passieren kann. Ein banales Ereignis kann einen vom Weg abbringen und ins Verderben stürzen.
Bewährte Themen
Man kann viele der Geschichten nicht gut nacherzählen. Sie sind zwar kurz, aber dicht und vieles bleibt nur angedeutet. Alice Munro lässt manches offen, aber es wird schnell klar und man spürt ganz genau, was abgeht in diesen Momentaufnahmen im Leben ihrer Figuren.
Weitere Buchbepsrechungen
In ihren leicht verstörenden Geschichten beschäftigt sie sich immer mit den gleichen Themen und immer bewegt sie sich im Privaten. Es geht um Ehebruch, Mutter-Tochter-Beziehungen, Aufbrüche, Demütigungen, Abrechnungen und Lebenslügen.
Zusammen mit ihr sind auch Munros Figuren älter geworden. In «Liebes Leben» schildert sie die Ängste einer verwirrten alten Frau, oder sie lässt ein älteres Paar über einen gemeinsamen Tod nachdenken.
Das «Finale» erzählt Munros Anfang
Eindrücklich sind die vier letzten, autobiografischen Geschichten, die Alice Munro im Kapitel «Finale» zusammenfasst. Sie schreibt dazu: «Ich glaube, sie sind die ersten und letzten – und die persönlichsten – Dinge, die ich über mein Leben zu sagen habe.»
Es sind Erinnerungen, Momente aus ihrer Kindheit, etwas unscharf, fast wie Träume. Sie erzählt zum Beispiel von langen, schlaflosen Nächten. Wie ihr dann böse Gedanken durch den Kopf gehen, dass sie die kleine Schwester im gleichen Zimmer erwürgen könnte. Oder vom toten Kindermädchen, das ihr vom Sarg aus mit dem Auge zuzuzwinkern scheint. Oder davon, wie die kleine Alice in der Schule geplagt oder wie sie vom Vater verprügelt wurde.
Jedes Detail ist nötig und wichtig
Das Nobelpreis-Komitee brauchte nicht viel Worte: Alice Munro ist die Meisterin der Erzählung. Sie ist die Grösste fürs Kleine. Ihre kurzen Geschichten sind grosse Kunstwerke. Das zeigt sie auch in ihrem – wahrscheinlich – letzten Buch.
Man kann ihre kurzen Geschichten rasch verschlingen. Eine nach der anderen. Dabei muss man aber aufmerksam bleiben, weil es auf jedes Detail drauf ankommt. Es passiert viel zwischen den Zeilen, schnell hat man etwas Wichtiges überlesen. Deshalb: Am besten nur eine Geschichte aufs Mal und dann etwas auf sich wirken lassen.