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Hausfassade mit Feuerleitern
Legende: In «Mr. Moonbloom» tut sich, mitten im Elend, hinter jeder Wohnungstür eine neue Welt auf. colourbox

Literatur Das pralle Leben in der Mietskaserne

Der jüdisch-amerikanische Autor Edward Lewis Wallant starb mit nur 36 Jahren. Hinterlassen hat er die Romanvorlage zum Film «Der Pfandleiher» sowie sein literarisches Hauptwerk «Mr. Moonbloom» aus dem Todesjahr 1962. Es ist eine funkelnde Trouvaille.

Wallant ist ein Stilkönig. Das geht zum Beispiel so: «Die Stimme seines Bruders war ein mit falscher Geschwindigkeit abgespieltes Tonband.» Oder noch kühner: «Die Sonne musste sich bücken, um hier einzufallen.» Was für eine phantastische Bildsprache! Im Roman «Mr. Moonbloom» wird Seite für Seite ein Metaphernfeuerwerk sondergleichen gezündet.

Gestank des Elends steigt dem Leser in die Nase

Im ärmlichen Lower Manhattan der Nachkriegsjahre geht Norman Moonbloom seiner Arbeit nach. Er treibt jede Woche den Zins bei den ihm zugeteilten Mietern ein. Und zwar als kleiner Angestellter seines Bruders, dem Besitzer der schäbigen Mietskasernen.

In Begleitung des Mietzinskassierers Moonbloom lernt der Leser diese Lotterbuden kennen, riecht förmlich den Geruch der Armut. Diese wird flankiert von Heerscharen von Küchenschaben, schimmligen Wänden und defekten Toiletten. Mr. Moonbloom vertröstet die unglückseligen Mieter mit ihren permanenten, aber gerechtfertigten Beanstandungen und Klagen über Defekte aller Art. Moonbloom ist dies ziemlich lästig. Aber er ist ein Ausbund von Geduld. Er spielt seine Rolle zwischen den Fronten beharrlich, hangelt sich von einer Vertröstung zur anderen. Er ermuntert, wo er kann. Und er richtet sein eigenes Leben ein auf dieser schillernden Hinterhofbühne.

Hinter jeder Tür eine neue Welt

Lange Zeit ist Moonbloom der stille, aber interessierte Beobachter. Er will nicht in das Elend seiner Mieter hineingezogen werden. Das sind unter anderen: Ein chinesischer Schürzenjäger, ein munterer 104jähriger russischstämmiger Jude, zwei Jazzmusiker, eine ehemalige deutsche KZ-Gehilfin, ein schwarzer Romancier. Wallant präsentiert uns ein bis zur Karikatur überdrehtes Figurenarsenal. Es entsteht ein cartoonartiges Soziogramm funkelndener Vignetten. In jeder Wohnung tut sich eine neue Welt auf.

Vom Geldeintreiber zum Menschenfreund

Dann erkrankt Moonbloom an Grippe. Während seiner Bettlägrigkeit mutiert er definitiv vom kühl-distanzierten Geldeintreiber zum Menschenfreund und Helfer. Seine bisherigen Erfahrungen vermengen sich zu einem Schlüsselerlebnis: Moonbloom spürt eine eigentliche philantrophische Ader in sich.

Wieder genesen nimmt er die Sorgen und Nöte seiner Klienten sowie deren Klagen über den schlechten Zustand der Wohnungen ernster. Er wechselt die Seiten in diesem Theater der Farcen. Es kommt am Ende soweit, dass Moonbloom selbst Hand anlegt bei längst fälligen Reparaturarbeiten. Nicht zuletzt der Tod eines Kindes von Mietern, gibt Moonblooms neuem Humanismus zusätzlichen Schub.

Wallants Vermächtnis

Buchhinweis

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Edward Lewis Wallant: «Mr Moonbloom» Berlin Verlag, 2012.

Moonblooms Leute tragen das harte Leben auf ihren Schultern. Diese Kreaturen leiden unter dem heimatlosen metropolitanen Leben, unter dem Kampf um Arbeit und Verdienst. Sie sprechen in hundert Zungen, alle ihrem Charakter und insbesondere ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten gemäss. Gerade wegen seines jüdischen Hintergrunds ist der Held sensibilisiert. Er versteht es sogar, antisemitische Anspielungen der deutschen Ex-KZ-Mitarbeiterin auflaufen zu lassen.

Moonbloom legt sein Pokerface endgültig ab und setzt in seinem moralischen Energieanfall dazu an, denen zu helfen, die es zuletzt von ihm hätten erwarten dürfen: Den Randständigen in Lower Manhattan, die nicht wissen, wie sie Woche für Woche ihre Miete zusammenkratzen sollen. Dieser Roman ist ein wertvolles Zeugnis für das Talent eines Autors, der uns heute noch überrascht.

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