Die beiden Kinder sind 11- und 7-jährig, als sie ihre Mutter an einem verschneiten Tag in Belgrad zum Bus bringen, und alleine nachhause zurückgehen. Sie müssen gross sein und verstehen, dass die Mutter ins ferne Deutschland reist, um Geld zu verdienen.
Aber kann man das als 7-Jährige verstehen? «Einer nach dem anderen kamen mir meine Lieben abhanden», heisst es am Anfang des schmalen Romans der Serbin Dragana Oberst. Dann werden die beiden Geschwister in einer Pflegefamilie so schlecht behandelt, dass sie erkranken. Das Mädchen kommt zur Oma, der Junge in ein Internat.
Die Ohnmacht des Kindes
Die Geschichte dieser Kindheit und Jugend ist in verknappten, aufs Wesentliche reduzierten Sätzen erzählt. Fast wichtiger als die Geschichte selbst scheint die unterschwellige verzweifelte Ohnmacht, die wie ein roter Faden mitläuft. Denn wo kann sich ein hin- und hergeschobenes Kind orientieren, wenn es sieht, dass auch die Erwachsenen verschoben werden wie Spielfiguren?
Dennoch sind die bei der Grossmutter verbrachten Jahre ein Trost und eine Zuflucht. Als die 11-jährige Jana sich mit schwerem Koffer aufmacht, um zur Mutter nach Deutschland zu ziehen, weiss sie: jetzt ist ihre Kindheit zu Ende. Was sie aber noch nicht weiss: dass die deutschen Behörden sie zurückschicken werden, weil sie weder Deutsch spricht noch einen Schulabschluss hat.
Sich wieder Heimat schaffen
Als Jana, schliesslich 15-jährig, endlich bei ihrer Mutter in Süddeutschland bleiben kann, ist ihr ganzes Leben bis an diesen Punkt von den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen bestimmt worden. Nun versucht sie sich ein neues Land und eine neue Sprache zu erobern.
Dabei werden einzelne Menschen ihre Rettung: eine Lehrerin und eine Schulleiterin verstehen, dass es für Jana um viel mehr geht als um das Erlernen der Sprache – es geht um Identität.
Eine Reise zurück
Als in Jugoslawien der Krieg ausbricht, der das Land zerrüttet, ist Jana längst erwachsen. Besonders ein Besuch in Belgrad – nach dem Krieg - wirft sie noch einmal mitten hinein in ihre Kindheit, die voller Verluste und ungelöster Rätsel gewesen war.
Ihr Vater ist gestorben. Sein Begräbnis wird ihr zum Anlass für ein inneres Gespräch – und eine Erinnerung, die trotz ihrer Schrecken auch einen Trost birgt: als sie ihn, 10-jährig, im Gefängnis besucht hatte und plötzlich verstand, dass er die Familie nicht freiwillig verlassen hatte.
Die Rätsel des Lebens und der Liebe
In Dragana Obersts Buch wohnt der Schrecken ganz nah neben dem Trost. Es ist bewegend und sehr gelungen, wie die Autorin die kindliche Fähigkeit beschreibt, sich von einer Liebe zu nähren, die weit weg ist.
Nicht zuletzt erzählt Dragana Oberst von der menschlichen Fähigkeit, Erkenntnis- und Entwicklungswege zu gehen: So kann sie der Hoffnungslosigkeit der politischen Verhältnisse entgegentreten, die die Kindheit ihrer Heldin gezeichnet hatten.
Sendung: SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 5.1.2014, 17:45 Uhr