Das Foto auf dem Buchumschlag zieht einen sofort in den Bann: Es zeigt eine junge, blonde Frau im seitlichen Profil, die eine Zigarette raucht. Auf ihren Lippen ahnt man ein leises Lächeln.
Dieses Bild ihrer Mutter Lucile hat Delphine de Vigan zufällig im Nachlass gefunden. Es repräsentiere sehr genau das unergründliche Wesen dieser attraktiven Frau, sagt die französische Schriftstellerin im Gespräch. Eine geheimnisvolle Aura habe sie umgeben: Man habe immer den Eindruck gehabt, sie sei zwar da, und gleichzeitig ganz woanders.
Schönheit als Handicap
In ihrem Roman «Das Lächeln meiner Mutter» rollt Delphine de Vigan das bewegte Leben von Lucile noch einmal auf und macht deutlich, dass die Schönheit für ihre Mutter auch ein Handicap war. Schon als Kind wurde das scheue Mädchen für Werbefotos vor die Kamera gezerrt; auch der eigene Vater soll sich ihr ungebührend genähert haben.
«Ständig klebte der Blick der anderen auf Lucile», erinnert sich die Autorin. Wohl auch deshalb habe die Mutter später viel getrunken und exzessiv geraucht: «Es war eine Möglichkeit, diese Schönheit einzudämmen.»
Strategie der Verdrängung
Aufgewachsen war Lucile als Drittälteste in einer lebhaften, unkonventionellen Grossfamilie mitten in Paris. Als sie acht Jahre alt war, stürzte ihr kleiner Bruder beim Spielen in einen Brunnen und ertrank. Wie ein Fluch verfolgt fortan das Unheil diese Familie: Es kommt zu weiteren tragischen Ereignissen und Todesfällen, aber Luciles Eltern beharren auf dem Mythos der glücklichen, heilen Familie, unterdrücken die Tränen und blenden alles Unangenehme aus.
Delphine de Vigan zeigt in ihrem Buch auf, wie verheerend sich diese Strategie der Verdrängung auf sensible Kinderseelen wie jener von Lucile auswirkt. Später, als Erwachsene, wird sie immer wieder gegen die Dämonen einer manisch-depressiven Erkrankung ankämpfen müssen und sich im Alter von 61 Jahren das Leben nehmen.
Überschäumende Vitalität
Hervorragend schafft es Delphine de Vigan, die Geschichte ihrer Mutter auch zwischen den Zeilen sprechen zu lassen; man ahnt die Abgründe, ohne dass sie explizit benannt werden, und man realisiert, wie explosiv Familiengeheimnisse sein können.
Monatelang hat Delphine de Vigan ihre Verwandten befragt, hat Briefe und Fotoalben durchforstet und auch eigene Erinnerungen wachgerufen. Schreibend hat sie sich dann dem Schicksal ihrer Mutter angenähert und versucht, nicht nur das Dunkle, sondern auch das Helle in diesem Leben einzufangen: «Was beim Lesen lebendig werden sollte, war das besonders Freudige an meiner Familie, diese lärmende, überschäumende Vitalität, diese energische Art, das Tragische zu bekämpfen», schreibt sie an einer Stelle.
Nominiert für den «Prix Goncourt»
Der Roman «Das Lächeln meiner Mutter» wurde in Frankreich ein enormer Publikums-Erfolg und bestätigte, dass Delphine de Vigan heute zu den wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs gehört. Sie gewann für dieses Buch mehrere Preise und wurde sogar für die höchste französische Auszeichnung nominiert: den «Prix Goncourt».
Es sei ihr mit Abstand persönlichstes Werk, sagt die Autorin, «und ich hoffe, dass ich nie wieder so Privates preisgeben muss.» Die literarische Auseinandersetzung hat ihr aber geholfen, den Selbstmord ihrer Mutter zu akzeptieren. Das Buch endet mit den Worten: «Lucile starb, wie sie es sich wünschte: lebendig. Jetzt bin ich in der Lage, ihren Mut zu bewundern.»