«Noch so einer!» Das bekam der 29-jährige Dmitrij Kapitelman zunächst naserümpfend zu hören, wenn er von seinem Buchprojekt erzählte. Wenn täglich Flüchtlinge in die Schweiz oder nach Österreich und Deutschland gelangen, will manch einer nicht auch noch Bücher über die Flüchtlingsproblematik lesen.
Dmitrij Kapitelman kann die Abwehrreflexe nachvollziehen. «Es gibt schon eine Art Emigrantenindustrie und entsprechend viele Bücher über diese Problematik, vielleicht sogar ein paar zu viel», sagt er im Gespräch. «Aber ich versuchte, mich nicht allzu sehr damit zu belasten.»
Rückzug ins Ich
So schrieb er allem verbreiteten und eigenen Überdruss zum Trotz sein Buch über das Flüchtlingsschicksal der eigenen Familie. Und zwar aus Angst, dass ihm besonders der Vater abhandenkommen könnte, der in Deutschland nie heimisch wurde und sich immer mehr in sich zurückzog.
Das Buch, Kapitelmans erstes, heisst «Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters». Warum sollen wir es neben allen Zeitungsberichten über Flüchtlinge auch noch lesen?
Dmitrij Kapitelman beschreibt, wie Flüchtlinge letztlich Flüchtlinge bleiben, selbst wenn sie sich äusserlich in die Gesellschaft ihres Gastlandes integrieren. Es geht um Menschen, die nicht mehr wissen, wo sie hingehören. Kapitelmans Vater ist so einer.
Kein gelobtes Land
Die Familie Kapitelman wanderte in den 1990-er Jahren aus der Ukraine aus. Erst wollten sie nach Israel. Doch dann kamen sie als so genannte «Kontigententflüchtlinge» oder «Wiedergutmachungsjuden», wie Kapitelman schreibt, nach Ostdeutschland. Definitiv kein gelobtes Land, in das sie gelangten.
Von «Willkommenskultur» keine Spur. Die Migranten waren sich selber überlassen – oder den Neonazis, die dort, von Gemeinden und Polizei kaum behelligt, auf Flüchtlingsjagd gingen.
Vater verschwindet
Der Vater, der einen Laden für russische Spezialitäten führt, hält sich aus allem heraus, wird immer unsichtbarer. Eine Überlebensstrategie, die auf Kosten der Lebensqualität geht. Da er sich selber nicht aufgenommen fühlt, kann er auch kein Verständnis aufbringen für neue Flüchtlinge, die heute nach Deutschland gelangen.
Dmitrij Kapitelmans Buch lässt sich listigerweise genauso schwer einordnen wie die Menschen, von denen es handelt. Man kann es lesen als Roman oder als Reiseerzählung oder als literarische Reportage, und doch ist es etwas ganz Eigenes.
Kapitelmans Leitwort ist die «Aufrichtigkeit». Er schreibt ausschliesslich von Begebenheiten, die sich tatsächlich ereignet haben. Und doch ist sein Erzählstil himmelweit entfernt von plattem Realismus.
Hoffnung auf Heimat
Der Sohn überredet schliesslich den Vater, gemeinsam eine Reise nach Israel zu unternehmen – in der leisen Hoffnung, dass sich dort vielleicht eine Identität oder wenigstens ein eigenes Selbstverständnis entdecken lässt.
Der Vater freut sich besonders auf den Flughafen Tel Aviv: Zum ersten Mal in seinem Leben möchte er sich an einem öffentlichen Ort sicher fühlen, die Atmosphäre der Geborgenheit auskosten. Doch am Ende wird auch Israel nicht zur Heimat.
Der Vater verschwindet wieder, schimpft über die Araber und die heutigen Flüchtlinge, die sich noch weniger irgendwo zu Hause fühlen können als er. Was läuft falsch, wenn nicht einmal die ehemaligen Flüchtlinge Verständnis für die neu ankommenden Flüchtlinge aufbringen?
Dieser Frage geht Dmitrij Kapitelmann in seinem bewegenden und mit wunderbarem Gespür für Komik geschriebenen Buch nach.