John William und Neil unternehmen als Jugendliche mehrtägige Überlebenstrips in die hohen Berge und riesigen Wälder Nordamerikas. Ganz alleine, ohne Hilfsmittel, ohne spezielle Ausrüstung oder Nahrungsmittel. Bei diesen gefährlichen Ausflügen sind sie aufeinander angewiesen. Sie schlafen unter freiem Himmel, philosophieren am Lagerfeuer und rauchen Joints.
Sehnsucht nach Freiheit und dem Ursprünglichen
Wie viele junge Männer sind sie fasziniert vom Abenteuer und dem Ursprünglichen. Mehr als einmal verlaufen sie sich und kommen in Gefahr. Diese Erlebnisse verbinden und intensivieren die Freundschaft.
Später trennen sich die Wege. Neil heiratet und wird Lehrer. John William kehrt der von ihm verhöhnten «Hamburger-Welt» den Rücken. Er bricht alle sozialen Kontakte ab und versteckt sich in einer geheimen Höhle im tiefen Wald.
Besuche beim Einsiedler
Nur Neil weiss, wo John ist. Nur Neil besucht seinen Freund und bringt ihm überlebenswichtige Sachen aus der Zivilisation: Milchpulver, Konserven, Seife, Socken, Kerzen, Schokolade, Cannabis und Sexhefte. Neil fühlt sich verpflichtet John William zu helfen. Er steht zu seinem Freund, und er verrät ihn nicht, nicht mal bei dessen Eltern.
Mit der Zeit wird der Aussteiger immer mehr zum Sonderling. Der kräftige Naturbursche und Überlebenskünstler hat immer weniger Lebensfreude. Eines Tages findet Neil seinen Freund tot in der Höhle. Er lässt den Toten zurück und lebt sein Leben weiter. Das quält ihn jahrelang und er fragt sich, ob er letztendlich mitschuldig ist am Tod von John William.
Ein psychologisches Drama
Sendung zum Thema
Guterson («Schnee, der auf Zedern fällt») lässt den Ich-Erzähler Neil auf die Zeit seiner Jugend zurückblicken. In der Lebensbeichte geht es um Verantwortung, Schuld und Verlust. Die Geschichte ist brilliant erzählt, mit viel Liebe zum Detail. Besonders eindrücklich sind die Schilderungen der abenteuerlichen Ausflüge in die Wildnis. David Guterson mag seine beiden unterschiedlichen Hauptfiguren. Sie sind stark und glaubwürdig. Und es ist psychologisch interessant, was sie aus ihrem Leben machen und wie sich ihre Freundschaft weiterentwickelt.
Daneben ist der Roman ein wunderbares Porträt der 1970er-Jahre. Musik, Drogen und Literatur spielen eine bedeutende Rolle. John William liest Überlebens-Ratgeber, aber auch «Einhundert Gedichte aus China», und Neil erzählt ihm beim Kiffen über den Erfolg von «Abba».
«Der Andere» von David Guterson ist kein Abenteuer-Roman mit Aussteigerromantik, eher ein psychologisches Drama. Ein Buch über eine intensive Männerfreundschaft, das auch Frauen begeistern dürfte. Süffig zum Lesen und auch als Hör-CD, gelesen von Stephane Bittoun, ein Genuss.