Seit fünf Jahren lebt Marie NDiaye mit ihrer Familie in Berlin. Mit der monströsen Fremdenfeindlichkeit von Nicolas Sarkozy hatte die Tochter eines senegalesischen Vaters und einer französischen Mutter ihren Wegzug aus Frankreich nach der Wahl Sarkozys zum Staatspräsidenten im Jahr 2007 begründet. In Frankreich sorgte das für einen einen Riesenwirbel.
Heute spricht sie fast verlegen davon – «das ist vorbei». Zu ihrer Freude wurde ein neuer Präsident gewählt. Doch denkt sie nicht an Rückkehr. An Berlin gefällt ihr die für eine Metropole atypische Ruhe und Beschaulichkeit, welche sie in Charlottenburg beinahe so leben lässt wie in einem südfranzösischen Dorf.
Ein literarisches Wunderkind
Die 45jährige, eher scheue, zierliche schwarze Autorin spricht leise, doch bestimmt: Ihr afrikanisches Aussehen sei rein äusserlich, versichert sie – bedauernd: «Ich hätte gerne eine doppelte kulturelle Prägung gehabt, bin aber zu 100 Prozent ein Produkt klassisch-republikanischer französischer Bildung».
Marie NDiaye war ein literarisches Wunderkind: Mit zwölf begann sie zu schreiben. Mit 17 schickte sie - ganz ohne Kenntnis der literarischen Szene – ihr erstes Manuskript an drei Verlage, worauf sie postwendend eine Zusage vom renommierten Verlagshaus «Editions de Minuits» bekam: Dessen legendärer Verlagsleiter Jérôme Lindon brachte ihr den Vertrag höchstpersönlich in ihr Gymnasium in der Pariser Banlieu.
Seit über 25 Jahren also belebt sie die französische Gegenwartliteratur mit stilistisch herausragenden, thematisch eigenwilligen Erzählungen und Theaterstücken, in denen magische und surreale Momente die oft sehr sozialkritische Gestaltung ihrer Stoffe begleiten. Oft sind es, wie in «Rosie Carp» oder «Drei starke Frauen», Scheiternde in elenden Verhältnissen, deren Menschenwürde Marie NDiaye einklagt.
Etwas anders liegt der Fall beim 1994 geschriebenen, jetzt deutsch aufliegenden Roman «Ein Tag zu lang», der verstörenden Geschichte einer irreversiblen Verirrung: Der Pariser Lehrer Herman verbringt seine Sommerferien mit Frau und Kind in einem Provinznest in der Normandie.
In der Tradition von Kafka
Als er einmal statt wie immer Ende August, einen Tag später abreisen will, ist schlagartig alles anders: dichter Nebel, Kälte, Dauerregen lassen ihn die Sommerfrische nicht wiedererkennen. Schlimmer aber: seine Frau und sein Kind verschwinden spurlos. Nachbarn und Behörden reagieren seinem Unglück gegenüber gleichgültig oder gar feindselig.
Die offenkundig in der Tradition Kafkas entwickelte Spukgeschichte schleudert den ignoranten Hauptstädter aus allen vertrauten Mustern an den Abgrund. Zum Bleiben genötigt, verkommt und versackt er allmählich, bis er eines Tages die Verschwundenen als Avatare oder Gespenster durch die Dorfgassen zu gehen vermeint.
Als Ziel - ein grosse Fresko
Mit suggestiver Kraft zieht die Autorin die Lesenden in ihre unheimlich-undurchsichtige Geschichte hinein, um ansatzlos und ohne Auflösung das Buch zu beenden. Eine spannende Lektüre, von der Tiefgründigkeit und der literarischen Meisterschaft von «Drei starke Frauen» gewiss noch ein Stück weit entfernt.
Das räumt auch die Autorin ein, der ihr frühes, seither nie wiedergelesener Roman fast fremd vorkommt, und die überzeugt ist, mit jeder Arbeit schriftstellerisch reifer und besser zu werden.
Als Vorbilder nennt sie William Faulkner und Malcolm Lowry. Und als Ziel setzt sich Marie NDiaye, ein grosses Fresko, ein umfassendes Gesellschaftspanorama zu entwerfen.