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Ein Mann mit grauem kurzem Haar.
Legende: Seine Zivilcourage verhinderte einen Atomkrieg: Stanislaw Petrow. Ingeborg Jacobs

Literatur Der Mann, der den Atomkrieg im Alleingang verhinderte

Sowjetunion, Herbst 1983: Das militärische Überwachungssystem meldet einen amerikanischen Angriff mit Atomraketen. Der Offizier Stanislaw Petrow entscheidet auf Fehlalarm – und wahrt den Weltfrieden. Die Journalistin Ingeborg Jacobs würdigt Petrows Tat in einem neuen Sachbuch.

Der Vorfall

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26. September 1983, 00.15 Uhr: Im Raketenfrühwarnzentrum Serpuchow-15 südlich von Moskau schrillt der Alarm. Das Früherkennungssystem meldet, dass die USA Atomraketen Richtung Sowjetunion abgefeuert hätten. Bis zum Einschlag verbleiben dreissig Minuten. Offizier Stanislaw Petrow verhindert durch seine Entscheidung den Ausbruch eines Atomkriegs.

Ingeborg Jacobs, was beeindruckt Sie an Stanislaw Petrow so sehr, dass Sie über ihn ein ganzes Buch geschrieben haben?

Seine Bescheidenheit. Er hat seine Heldentat, die Raketenwarnungen des Computersystems zu ignorieren, nie ausgeschlachtet. Vielmehr pflegt er zu sagen, dass er nur seine Arbeit gemacht habe. Und ein Held sei er schon gar nicht, er sei lediglich zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen.

Sie haben Stanislaw Petrow für Ihr Buch persönlich im Moskauer Vorort besucht, wo der heute 76-Jährige lebt. Was ist er für ein Mensch?

Er entspricht überhaupt nicht dem im Westen verbreiteten klischierten Bild des grobschlächtigen Russen. Ich habe ihn als sehr feinsinnigen und gebildeten Menschen kennen gelernt. Er ist eine Persönlichkeit mit Erziehung und Format, ein Mann, der eben auch den Mut zu einer eigenen Position aufbringt, so wie damals im September 1983, als er es glücklicherweise wagte, die Warnungen des Computers zu bezweifeln.

Wie geht er heute mit seiner Tat vor 32 Jahren um?

Ingeborg Jacobs

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Die im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz lebende Journalistin Ingeborg Jacobs ist Autorin mehrerer Sachbücher. Zudem hat sie mehrere zeitgeschichtliche Dokumentarfilme gedreht. Zwischen 1989 und 1992 lebte sie in der Sowjetunion, aus der das heutige Russland hervorgegangen ist.

Sie ist für sein persönliches Leben heute nicht mehr besonders wichtig. Für ihn ist bedeutender etwa, dass er vor 20 Jahren seine Frau verloren hat. Danach ist er mehr und mehr vereinsamt, verarmt und verwahrlost. Überdies ist er wegen einer Augenkrankheit praktisch erblindet. Der Mann sitzt mehr oder weniger verbittert den ganzen Tag alleine in seiner Wohnung und pflegt kaum Kontakte nach aussen. Die gelegentlichen Besuche der Journalisten scheinen ihn mehr zu nerven als zu freuen: Er muss ihnen immer wieder dieselbe alte Geschichte erzählen, die ihn kaum noch interessiert.

Weshalb erfährt der Retter des Weltfriedens denn im heutigen Russland nicht mehr Ehre?

Der Fehlalarm wurde damals in der Sowjetunion lange Zeit vertuscht. Der Untersuchungsbericht einer sowjetischen Expertenkommission über die Ursachen des Beinahe-Desasters ist zum Staatsgeheimnis erklärt worden. Als in den 1990er-Jahren Petrows Tat öffentlich bekannt wurde, gab es Versuche, ihm das Versagen des Überwachungssystems anzulasten. Dies hat ihn natürlich sehr gekränkt.

Das ist lange her. Weshalb beurteilt das heutige Russland den Vorfall nicht etwas entspannter?

Buchhinweis

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Ingeborg Jacobs: «Stanislaw Petrow. Der Mann, der den Atomkrieg verhinderte.» Westend Verlag, 2015.

Weil auch das heutige Russland unter Putin Petrows Tat noch immer als zweischneidige Sache wahrnimmt. Natürlich hat der Mann durch seine Zivilcourage den dritten Weltkrieg verhindert. Zum anderen hat er sich jedoch auch eigenmächtig gegen Befehle und übergeordnete Strukturen gestellt. Und dies wird ihm damals wie heute eben auch als Verrat am Vaterland ausgelegt.

2014 drehte der dänische Regisseur Peter Anthony den Film «The Man Who Saved the World», ein Doku-Drama über Stanislaw Petrow. Inwiefern war dieser Film doch eine späte Würdigung des Weltenretters?

Ich habe meine Zweifel. Peter Anthonys Film stellt Petrow als groben, fluchenden, derben russischen Säufer hin. Die Aussage lautet: «Seht her, so sieht er also aus, der russische Held, dem wir unser Leben verdanken.» Aber das Bild stimmt überhaupt nicht. Ich habe einen anderen Menschen kennengelernt, freundlich, intelligent, mit guten Manieren. Ich glaube, der Film hat Petrow mehr beleidigt als geehrt.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 24.12.2015, 17:15 Uhr

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