Alles beginnt am 20. September 1927. Alfred Polgar, Theaterkritiker und führender Wiener Feuilletonist, schaut sich die Revue eines Berliner Gastspielensembles an. Es tritt in Wien gerade mit «Broadway» auf, einer reichlich belanglosen Kriminalkomödie. Mit von der Partie sind fünf Revuemädchen, deren Aufgabe es ist, zwischendurch ihre Beine zu zeigen.
Eine von ihnen ist die junge Marlene Dietrich. Polgar ist beeindruckt. Nicht vom Stück, nicht von den Beinen und auch nicht von der Schönheit. Beeindruckt ist er von der Ausstrahlung. Dieser Blick, diese Mischung aus «Uninteressiertheit und kindliche Neugier», wie er später schreibt.
In der Bar am Ku'damm
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Ein paar Jahre später treffen sie sich wieder. Jetzt in Berlin, wo Polgar mittlerweile wohnt. Dort gehört Marlene zu seinem Freundeskreis. Zusammen mit dem Theatermann Fritz Kortner und anderen führenden Künstlern treffen sie sich wöchentlich in der Hotel-Eden-Bar am Kurfürstendamm. Gute Jahre sind das für Polgar, der den Höhepunkt seines Ruhms erreicht hat, gute Jahre auch für Marlene, die unterdessen «die Dietrich» geworden ist.
Doch dann kommt Hitler. Polgar, der Jude, verliert auf einen Schlag all seine deutschen Auftraggeber und Verlage. Bald hat er kein Geld mehr. Dietrich hilft ihm aus und überweist ihm 500 Dollar nach Wien, wohin er unmittelbar nach dem Reichstagsbrand zurückgekehrt ist. 500 Dollar entsprechen heute einem Wert von etwa 12'000 Franken.
Sensibel und genau
Polgar ist beschämt. Er will das Geld nicht annehmen und bietet eine Gegenleistung an. Und so kommt die Idee einer Marlene-Dietrich-Biografie auf. Mit der wird er sich die nächsten drei Jahre herumquälen. Weniger mit dem Text an sich als mit dem Umstand, in Dietrichs Schuld zu stehen. Das hemmt ihn und hängt wie ein schlechtes Omen über der ganzen Produktion.
Dabei hat das Buch wunderbare Passagen. Vor allem die Kapitel über die Details, die «die Dietrich» ausmachen, sind bestechend: das Kapitel über ihre Stimme zum Beispiel, das übers Gesicht, das über ihren Sex-Appeal. Die Sensibilität und Genauigkeit, mit der er diese Facetten der Schauspielerin beschreibt, sind einzigartig. Das kann so nur Polgar.
Von Wien nach Wien in 80 Jahren
Dann kommt Hitler erneut. Am 11. März 1938 wird Österreich ans «Reich» angeschlossen. An eine Veröffentlichung ist nicht mehr zu denken. Alfred Polgar flieht über Zürich und Paris nach New York. Im Gepäck nichts als sein fertiges Marlene-Manuskript, das er nun überall an den Mann zu bringen versucht. Vergebens. Der Text findet keinen Abnehmer und verschwindet in einem alten Koffer in New York.
Jetzt ist er wieder da. Zu verdanken ist das Ulrich Weinzierl, dem Wiener Literaturwissenschaftler und Journalisten. Er hat ihn wiedergefunden und editiert. Er hat ihn mit einem Nachwort versehen und herausgebracht. Und zwar dort, wo er vor 80 Jahren entstanden ist. In Wien.