SRF Kultur: Sie haben viele Jahre im Ausland gelebt, hauptsächlich in Japan und den USA. In Ihren Romanen kehren Sie aber immer wieder in Ihre Geburtsstadt Wałbrzych zurück. Warum?
Joanna Bator: Ich wähle den Ort nicht bewusst aus. Und ironischerweise wollte ich, als ich mit 19 wegging, nie wiederkommen. Wałbrzych war bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine deutsche Stadt. Deren Bewohner mussten Hals über Kopf fliehen und es rückten Polen nach, die von den Sowjets aus dem Osten des Landes vertrieben worden waren.
Die Heldin Ihres Romans «Dunkel, fast Nacht» kehrt als Journalistin in ihre Heimatstadt zurück, um zum Verschwinden dreier Kinder zu recherchieren. Sie nimmt Quartier im verlassenen Elternhaus, das vor dem Krieg Deutschen gehört hatte. Wie präsent war in Ihrer Kindheit und Jugend die deutsche Vergangenheit von Wałbrzych?
Diese Frage berührt mein Lieblingsthema. Es ist so, dass ich die ersten sechs Jahre in einem alten Haus aufwuchs, in der Wohnung meiner Tante. Vor den Vertreibungen hatte darin eine deutsche Familie gewohnt. Meine Vorfahren, die aus jenen Gebieten kamen, die nach dem Krieg der Sowjetunion zugeschlagen wurden, haben sich in dieser Wohnung nie ganz heimisch gefühlt. Sie war voller deutscher Gegenstände – Möbel, Betten, Tische, Bilder, Essbesteck. Es war ein seltsamer, unheimlicher Ort.
In der Familie meiner Eltern und Grosseltern hat man nicht über diese deutsche Vergangenheit von Wałbrzych gesprochen. Man hat sie verdrängt. Und in der offiziellen kommunistischen Propaganda galt die Stadt als wiedererobert, in den Schoss Polens zurückgeholt.
Die neuen Bewohner nahmen die Stadt in Besitz, wie man Kriegstrophäen in Besitz nimmt, aber sie konnten sie nicht beerben, weil es das Erbe der «bösen» Deutschen, des Feindes war. Erst als Polen demokratisch wurde, nach 1989, hat sich die Geschichte sozusagen aus diesen Tunneln im Untergrund befreit und konnte das Polnische und das Deutsche zusammengefügt und zusammengedacht werden.
Sie beschreiben in Ihrem Roman «Dunkel, fast Nacht» Wałbrzych als eine Stadt, in der sich noch immer die Gespenster tummeln. Warum?
Es gibt ein Bild von Wałbrzych, das für mich sehr wichtig war: Wałbrzych ist eine Bergwerksstadt, unter der Stadt ist also ein ganzes System von Tunneln und Korridoren angelegt. Das Schloss Fürstenstein, das über der Stadt thront, wurde während des Zweiten Weltkriegs zu einem wahnwitzigen Sitz Hitlers ausgebaut, mit ebenfalls ganz vielen Tunnels, welche Häftlinge des nahen KZs Gross-Rosen im Rahmen des Projekts «Riese» unter grösster Geheimhaltung anlegen mussten.
Ich bin also in den ersten 18 Jahren, die für einen Menschen ja prägend sind, gleichsam in zwei Städten aufgewachsen. In einer an der Oberfläche, die weder speziell schön, noch speziell hässlich war, und in einer zweiten, die unterirdisch und geheim war.
Wałbrzych war eine Stadt, in der immer jemand auf Schatzsuche war – sei es nach dem angeblichen Goldzug Hitlers, dem St. Petersburger Bernsteinzimmer oder der sieben Meter langen Perlenkette der Fürstin Daisy, der letzten Schlossherrin von Fürstenstein. Immer wieder hörte man, dass Hitlers Goldzug nun gefunden sei, und doch hat ihn nie jemand gefunden. Und in den frühen 1990er-Jahren, als ich erwachsen wurde, hat man diese Bergwerkstollen verfallen lassen und sie mit Wasser geflutet. Und diese dunklen Korridore, durch die das Wasser fliesst, sind ein Bild, das ich mitgenommen habe.
Hand in Hand mit einer unbewältigten Vergangenheit zeigen Sie in Ihrem Roman «Dunkel, fast Nacht» eine grosse Armut, welche die Menschen anfällig macht für Scharlatane aller Art.
Wałbrzych ist eine arme Stadt. In meinem Roman «Sandberg» beschreibe ich ein reicheres Wałbrzych in den 1970er-Jahren, Wałbrzych als stolze Bergarbeiterstadt, in der die Leute Arbeit hatten. Aber in den 1980er-Jahren verfielen diese Bergwerkstollen, die Kumpel verloren ihre Arbeit.
Eines der traurigsten Bilder, die ich mitnahm, als ich wegging, um in Breslau zu studieren, war das Bild von Männern mit kohlengeschwärzten Augen, die regungslos an den Wänden der Einkaufsläden lehnten. In den 1980er-Jahren war Wałbrzych bereits ein Ort, von dem man weggehen wollte. Erfolg bedeutete, weggehen zu können, zurückzukehren war eine Niederlage.