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Tuol Sleng Museum, das ehemalige S-21 Gefängnis, in Pnom Penh.
Legende: Im ehemaligen Foltergefängnis «S-21» in Pnom Penh sind heute Fotos der Opfer der Roten Khmer ausgestellt. Keystone

Literatur «Die Grausamkeiten der Roten Khmer betreffen alle»

Der Kambodschaner Rithy Panh war 13 Jahre alt, als er fast seine gesamte Familie durch die Gräueltaten der Roten Khmer verlor. Er selbst überlebte die Folterlager mit grossem Glück. In seinem Buch «Auslöschung» erzählt der Dokumentarfilmer seine Geschichte. Michael Luisier traf ihn zum Interview.

Rithy Panh, hatten Sie damit gerechnet, Filme zu machen und Bücher zu schreiben?

Rithy Panh: Das war überhaupt nicht vorgesehen. Als Kind wäre ich auch lieber Astronaut oder Grundschullehrer wie mein Vater geworden. Aber wenn man ein Drama wie einen Genozid durchlebt hat, hat man keine grosse Wahl. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man schweigt, erzählt nichts und versucht, sein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Das ist völlig in Ordnung, wenn man das schafft. Oder man stellt sich seiner Geschichte.

Rithy Panh

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Der kambodschanische Dokumentarfilmer Rithy Panh (50) überlebte die Folterlager der Roten Khmer, floh 1979 nach Thailand und lebt heute in Paris. Mit «S21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer» wurde er zunächst in Cannes und dann international bekannt. Sein Film «Reisfeld» war der erste kambodschanische Film, der für einen Oscar nominiert wurde. 

Filme machen, Bücher schreiben über diese schreckliche Zeit, das ist auch eine Art, wie man eine Zukunft schaffen kann. Nicht nur eine persönliche, sondern auch die eines Volkes. Ich glaube nicht, dass ein Volk einfach so aus einem Genozid herauskommen und in die Zukunft gehen kann, ohne diese Erinnerungsarbeit geleistet zu haben.

Für wen haben Sie dieses Buch geschrieben, für die Alten, für die Jungen, für die Lebenden oder für die Toten?

Ich habe eher an die Toten gedacht, denn es geht mir auch darum zu sagen, warum die Toten tot sind. Das ist sehr wichtig. Stellen Sie sich vor, wenn Sie nichts sagen und die Kinder, die nach dem Genozid geboren sind, sich plötzlich fragen, warum ihre Grosseltern tot sind. Haben die etwas Schlechtes gemacht? Ich denke, dass man den Jungen sagen muss, dass das mutige Leute waren, die Opfer wurden einer Diktatur, einer Tragödie, einer Politik, einer Ideologie. Und man muss ihnen sagen, dass der Mut dieser Leute Teil des heutigen Kampfes ist.

Darum bedeutet darüber zu schreiben, der heutigen Generation zu helfen. Damit sie weiterkommen und eine neue Seite aufschlagen können. Das ist leichter, wenn man seine Geschichte kennt. Und schlussendlich umfasst der Genozid nur vier Jahre unserer Geschichte. Vier schwierige Jahre, aber nur vier. Es gab ein Leben vorher und es wird ein Leben danach geben. Also muss man den Genozid überwinden. Das ist eine Botschaft der Toten an die neue Generation.

Wie sieht es mit der neuen Generation aus. Weiss die über den Völkermord Bescheid?

In den ersten 20 Jahren hat niemand gewagt, darüber zu sprechen, weil es wehgetan hat. Meine Generation sprach nur wenig darüber, wir fühlen uns schuldig. Wir sind es zwar nicht, aber wir fühlen uns dennoch schuldig.

Sie auch?

Ja, alle Überlebenden fühlen sich schuldig. Ständig. Vielleicht weil wir nicht das tun konnten, was wir hätten tun müssen, um unseren Familien zu helfen, um unsere Freunde zu retten. Darüber denken wir immer noch jeden Tag nach und versuchen uns jeden Tag davon zu überzeugen, dass wir nicht schuldig sind. Aber das kann man nicht. Man kann nicht einfach in einer Ecke sitzen und sich darüber den Kopf zerbrechen, ob man nun schuldig ist oder nicht. Also muss man diese Arbeit auf sich nehmen: Die Erinnerungen aufarbeiten, Geschichts-Recherche machen. Deshalb sind auch diese Prozesse gegen die Roten Khmer so wichtig, die seit etwa vier Jahren in Gang sind.

Die jungen Leute, die den Genozid nicht erlebt haben, die 20- bis 25jährigen, die 70 Prozent unserer Bevölkerung ausmachen, wollen es jetzt wissen. In der Schule ist der Genozid heute Teil des Lehrplans. Als ich vor 15 Jahren meine Filme zeigte, ist keiner gekommen. Nur ganz wenige Kambodschaner wollten etwas davon wissen. Jetzt gibt es viele junge Leute, die die Filme entdecken, die mir Briefe schreiben, die meine Bücher lesen. Also besteht Hoffnung, dass diese Erinnerungsarbeit voran geht. Natürlich macht die Erinnerung an die Verbrechen der Roten Khmer die Opfer nicht wieder lebendig, aber sie hilft, das Land wieder aufzubauen.

Sie haben einen der grössten Schlächter Kambodschas interviewt. Duch, der als Chef des Folter- und Hinrichtungslagers «S-21» zirka 12‘000 Menschen auf dem Gewissen hat. Sie beschreiben diese Treffen auch in Ihrem Buch. Wie waren die Treffen für Sie?

Kaing Guek Eav («Genosse Duch»)
Legende: Kaing Guek Eav («Genosse Duch») war Leiter des Gefängnisses «S-21» und verantwortlich für den Tod von 12'000 Menschen. Flickr/ECCC

Es war nie leicht, jemanden wie Duch zu treffen. Er ist einer der grössten Verbrecher des letzten Jahrhunderts. Ein Ideologe, ein Intellektueller, jemand, der sehr intelligent und gleichzeitig extrem pervers ist. Und ich habe mir erhofft, dass er den Weg zurück zum Menschsein finden würde in diesen Gesprächen. Er hat sich so sehr schuldig gemacht, dass er weiss, dass er den Weg zurückgehen muss. Aber den Weg zurück zum Menschsein gehen, heisst auch, dass er akzeptieren muss, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit ist immer schwierig und komplex. Und es ist schwierig, sie zu auszusprechen. Aber es gibt keinen anderen Weg. Ich denke, dass er es am Schluss nicht geschafft hat, die Wahrheit zu sagen. Denn das hiesse, zu akzeptieren, dass auch er sterben würde. Dazu hatte er den Mut nicht.

Es war kompliziert, mit diesem Mann zu sprechen, aber ich habe es getan. Und ich hoffe, dass die Leser, ob sie nun Kambodschaner sind oder welche aus der Deutschschweiz, ihre Schlüsse daraus ziehen und sich ihre Gedanken dazu machen können. Das Buch erlaubt uns vielleicht auch, über die Frage der Wahl nachzudenken. In bestimmten Momenten im Leben oder in der Geschichte, muss man eine Wahl treffen, sich entscheiden, was man tut. Ich glaube, das ist eine Frage, die man sich zu wenig stellt.

Ich bin jetzt 50 Jahre alt. In diesen 50 Jahren hat es schon viele Genozide gegeben. Ruanda, Kambodscha, Bosnien, Darfur: Es geht sehr schnell. Und man sagt immer, die Geschichte wiederhole sich nicht, aber das stimmt nicht. Die Geschichte wiederholt sich ständig. Aus Mangel an Erziehung, aus Mangel an Dialog, aus Mangel an Solidarität zwischen den Ländern und den Völkern, und ich glaube zutiefst, dass es die Rolle der Künstler ist, die Gesellschaft mit dieser Debatte zu konfrontieren.

Warum gab es den Völkermord in Kambodscha?

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Man hat sehr lange das Los der Armen vernachlässigt. Und plötzlich kommt da eine neue Ideologie, die Revolution der Roten Khmer. Am Anfang scheint eine Revolution immer eine gute Idee zu sein: Gerechtigkeit zwischen den Klassen, Befreiung der Armen, Abschaffung der Ausbeutung. Das sind wunderbare Ideen – erst mal. Pol Pot wusste von Beginn weg, dass die Bauern ein naturverbundenes Leben anstrebten. Es sind einfache Leute. Leute, die gleichzeitig sehr gewalttätig werden können. Dann war noch der  Vietnamkrieg, der nicht weit weg war, und die Amerikaner bombardierten überall – auch Kambodscha. Wenn Sie Bauer wären mit ein bisschen Land und zwei Kühen und eines Tages fällt eine Bombe vom Himmel – sie ahnten nichts, weil diese B52-Bomber so hoch fliegen, dass sie sie nicht hören konnten – und die tötet ihre Familie, ihre Freunde. Dann wären Sie schnell bei der Roten Khmer.

In den Krieg ziehen gegen den amerikanischen Imperialismus, gegen die Städter, gegen die Klasse der Bourgeoisie, die die Armen ausbeutet: Natürlich hätte man die Gerechtigkeit auch so herstellen können, aber Pol Pot und seine Freunde haben etwas geschaffen, was noch viel stärker ist, als die Befreiung der Unterdrückten. Eine Art uneingeschränkter Kommunismus, den weder die Chinesen noch die Russen erreicht hatten. Aber im kambodschanischen Labor gelang das. Diese Leute wollten Geschichte schreiben, wollten einen neuen Menschen schaffen. Sie wollten sich also mit den Göttern messen. Und wenn sich die Menschen für Götter halten, wird es gefährlich. Wenn die Menschen anfangen, darüber zu entscheiden, wer rein und wer unrein ist, was die neue Gesellschaft ist, was Glück ist, was Liebe ist, ja sogar, was empfunden, getragen und gegessen werden darf, dann kann das in extreme Brutalität und Gewalt umschlagen.

Das kann wiederkommen, jederzeit. Denn wenn man weiter in einer Gesellschaft lebt, in der die Reichen die Armen beherrschen, in der es nicht genug Solidarität gibt und wo man nicht an den Ressourcen teilhaben kann, dann kommen die Revolutionäre zurück. In anderer Form. Gerade die Globalisierung kann das wieder auslösen, also muss man sehr vorsichtig sein. Die armen Leute sind frustriert und die Ideologen manipulieren sie. Genau wie damals in Kambodscha. Man muss aber auch sagen, dass der kambodschanische Genozid anders war als der in Ruanda, der einen anderen Hintergrund hatte und eine andere Ideologie. Anders auch als der an den Juden, hinter dem wieder eine andere Ideologie steckte.

Sie haben Ihre ganze Familie verloren damals. Denken Sie oft an Ihr Schicksal?

Ja, heute denke ich immer an meine Familie und an meine Freunde. Gleich nach den Ereignissen nicht so sehr, weil man da noch zu sehr im Überlebenskampf steckt. Dann dauert es etwa 20 Jahre, bis das Leben etwas besser wird, und die Phantome einen schliesslich wieder zu fassen kriegen. Vor etwa 15 Jahren war ich in Spitälern und psychiatrischen Kliniken unterwegs. Dort hiess es, niemand habe ein Trauma wegen des Genozids. Niemand. Aber ich, obwohl ich kein Psychologe oder Psychiater bin, sah sehr wohl, dass gewisse Menschen nicht mehr schliefen und dass sie die ganze Zeit von dieser Epoche sprachen. Ich warnte: Wenn man das verdrängt, behindert das den Wiederaufbau des Landes. Aber niemand nahm das ernst.

Man sagte mir, man habe das untersucht und es existierten keine Anzeichen, dass die Leute ein Trauma vom Genozid zurückbehalten hätten. Heute, 10 Jahre später, reden alle vom Trauma, ausgelöst durch den Völkermord der Roten Khmer. Das finde ich bedauernswert, weil das jetzt nämlich ein Geschäft geworden ist. Viele humanitäre Organisationen und NGOs machen Geschäfte bei uns und reden nur noch vom Trauma, das man aufarbeiten muss. Ich bin da nicht einverstanden. Man muss die Geschichte aufarbeiten, aber es gibt noch sehr viel anderes zu tun. Erinnerungsarbeit muss man auf seriöse Weise machen.

Die kambodschanische Geschichte ist die Geschichte aller, schreiben Sie. Warum?

Buchhinweis

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Rithy Panh: «Auslöschung. Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet». Hoffmann und Campe Verlag, 2013.

Was in Kambodscha unter den Roten Khmer passiert ist, ist Teil der Geschichte der Menschheit. Natürlich liegt die Verantwortung bei den Kambodschanern, aber sie liegt auch beim ganzen Rest der Welt. Heute sowieso, wo man über so viele Informationen von der ganzen Welt. Aber auch damals schon, 1975. Die Leute wussten, dass die Roten Khmer töten und es eine Hungersnot gibt. Aber man hat sich aus ideologischen Gründen dagegen verschlossen. Die Roten Khmer sassen noch bis 1991 in der UNO und vertraten Kambodscha. Unglaublich!

Während des Völkermords von 1975 bis 1979 sagten fast alle Linksintellektuellen nichts. Es war ja ein kommunistisches Land betroffen. Die Rechten wiederum waren glücklich darüber. Sie konnten sagen: «Seht her, so sind die Kommunisten!» Im Grunde genommen beziehen wir uns immer auf irgendeine Ideologie, anstatt aufs Menschsein. Darin liegt auch die Verantwortung aller.

Heute leben Sie in Paris, sind aber oft in Phnom Penh. Wo sind Sie eher zu Hause?

Meine Familie lebt in Paris, aber ich bin auch Kambodschaner. Ich lebe auch dort und realisiere viele Projekte. Zum Beispiel baue ich das Bophana-Zentrum auf, ein audiovisuelles Zentrum, wo wir alle Filme, Tonaufnahmen und Bilder, die man finden kann, sammeln. Nicht nur über den Genozid. Wir haben auch Filme von den 1870er-Jahren bis heute über die ganze kambodschanische Geschichte.

Aber ja, wenn man das Exil mal kennt, ist man schnell nirgends mehr zuhause. Wenn ich in Paris bin, geht es mir gut. Aber plötzlich nicht mehr. Und wenn ich in Kambodscha bin, ist das auch so. Man darf nicht dagegen kämpfen, wenn man die Möglichkeit hat, es sich irgendwie leichter zu machen. Und die habe ich. Dank meiner Arbeit, meiner Freunde und meiner Familie.

Wenn ich nicht schlafen kann, kämpfe ich nicht dagegen. Es ist mein Glück, dass ich Filme mache und selbst über meine Zeit verfügen kann. Wenn ich Fabrikarbeiter wäre, und nicht schlafen könnte, müsste ich trotzdem um 5 Uhr aufstehen. Wenn ich mir die Arbeiter anschaue oder die Hausfrauen, die tägliche ums Überleben kämpfen, ist mein kleines Drama nichts. Nichts im Vergleich zu dem derer, die für ein besseres Leben kämpfen.

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