«Ich wollte wissen, was Russland ist. Ich kannte nur die Sowjetunion.» Das ist der Ausgangspunkt für Irina Liebmanns poetische Enquête in ihrem Geburtsland. Als Tochter eines deutschen jüdischen Exilkommunisten und einer Russin 1943 in Moskau zur Welt gekommen, nähert sie sich 20 Jahre nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion mit drei Reisen dem vom Westen arrogant ignorierten oder verkannten Russland zu.
Eine Autorin zwischen den Sparten
Die 69jährige Berliner Autorin ist eine Grenzgängerin zwischen den Sparten. Reportagen, Romane, Reiseberichte und die mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2008 in der Kategorie Sachbuch ausgezeichnete Biografie ihres Vaters Rudolf Herrnstadt, kennzeichnen ihr Schaffen. Herrnstadt war einer der herausragenden Publizisten in der jungen DDR, von den Stalinisten freilich bald abgesägt .
Eine Annäherung in drei Schritten
Weitere Sendung zum Artikel
Zunächst ist es das wegen der Maiferien überraschend leere Moskau, welches die Autorin aufsucht. Sie versucht zu verstehen, warum von Perestroika und Aufbruch nach 89 so wenig übriggeblieben ist.
In einer zweiten Reise im Winter fliegt sie in die geschichtsträchtige Stadt Kasan in Tatarstan an der Wolga, um eine der berühmtesten Ikonen mit eigenen Augen zu sehen. Die bedingungslose Zuwendung im Blick dieser Maria von Kasan bewegt die Autorin stark: Sie taucht danach tief ein in die Erinnerung an die eigene Mutter und deren schwieriges Leben als Russin im ehemaligen Feindesland.
Der dritte Annäherungsschritt schliesslich führt die Autorin im Sommer 2012 ins Sommerhaus, der klassischen Datsche ihrer Freundin vor den Toren Moskaus. Der Aufenthalt konfrontiert sie mit den erheblich divergierenden Mentalitäten, Alltagsproblemen und Erziehungsstilen.
Eindringliches Porträt eines Landes
Irina Liebmanns Buch ist eine faszinierende Mélange von genau recherchiertem Reise-Bericht, von poetischer Vergegenwärtigung des Fremden und von in ihrer Subjektivität eindringlichen Notaten von Gesprächen und Gefühlen.
Irina Liebmanns «Drei Schritte nach Russland» überzeugt thematisch und literarisch. Es ist gerade durch seine Lücken und Auslassungen eindringliches und ungemein facettenreiches Porträt eines von Vorurteilen entstellten Landes.