Das gelobte Europa ist nur wenige Kilometer entfernt, und je grösser Rashids Schwierigkeiten werden, desto plastischer wird der Traum vom gelobten Land auf der anderen Seite der Meeresenge. Rashid ist Marokkaner, er hat Frau und Kind und sorgt für seine Eltern. Er war schon immer arm, doch dann verliert er seine Arbeit – und Europa scheint seine letzte Hoffnung zu sein.
Er kauft für viel Geld einen Platz auf einem brüchigen Kahn. Die Flüchtlinge geraten in einen Sturm, viele ertrinken. Rashid wird eher zufällig an die spanische Küste gespült. Und schon bald ist fraglich, ob sein Überleben Glück war oder Pech.
Keine Reportage, trotz langwieriger Recherche
Der über 200 Seiten starke Comic «Unsichtbare Hände» ist ein gewichtiges Buch. Auch inhaltlich. Der finnische Autor und Zeichner Ville Tietäväinen arbeitete fünf Jahre lang an dieser Geschichte. Er reiste nach Marokko und Südspanien, er interviewte Flüchtlinge und Schwarzarbeiterinnen, aber auch Grenzbeamte, Schlepper und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.
«Unsichtbare Hände» ist jedoch keine Reportage – Tietäväinen zog es vor, die vielen Schicksale, denen er begegnet war, zu einer exemplarischen Geschichte zu verdichten. Der Geschichte des Marokkaners Rashid. In Spanien verdingt sich Rashid auf einer Gemüse- und Früchteplantage. Ohne Papiere und rechtlos schuftet er für einen Hungerlohn in einem Gewächshaus, in welchem die Luft vergiftet ist.
Doch noch kann Rashid seine Nächsten nicht unterstützen – zunächst muss er seine Schulden für die Überfahrt abstottern. Der europäische Traum mutiert zum Albtraum – auch wenn Rashid in seinen seltenen Briefen und Telefonanrufen in die Heimat das Gegenteil heuchelt.
Spannend und wichtig
Tietäväinen erzählt diese Geschichte über moderne Sklaverei mit grosser Dringlichkeit. Der Stil ist realistisch, abgesehen von einer leichten Überzeichnung der Gesichter. Die Verbindung von Federstrichen, Aquarellfarben, Pastellöl und digitaler Nachbearbeitung schafft dichte Bilder. Die vorherrschenden schmutzigen Ocker- und Brauntöne entfalten eine düstere Wirkung.
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Bisweilen sind die Bilder etwas gar dick aufgetragen – das gilt auch für die Geschichte, deren Personal streckenweise schematisch gezeichnet und deren Entwicklung vorhersehbar ist. Diesem Einwand zum Trotz ist «Unsichtbare Hände» ein spannender und wichtiger Comic. Unweigerlich denkt man an Rashid, wenn man im Supermarkt wieder spanische Tomaten oder Zitronen in den Händen hält.